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Kommentar Die EZB hilft auch Deutschland

Die Kritik an der Zinssenkung Mario Draghis ist falsch. Die Bundesbank isoliert sich mit ihrer Blockadehaltung zunehmend selbst. Von Melvyn Krauss
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In der vergangenen Woche hat die Europäische Zentralbank (EZB) die überraschende Entscheidung getroffen, ihren wichtigsten Refinanzierungssatz um 25 Basispunkte zu senken. Dieser Schritt war eindeutig im Interesse von ganz Europa, und zwar auch im Interesse Deutschlands, dass gegen die Senkung gestimmt hatte. Wenn die Deflation vor der Tür steht, dann bleibt man nicht im Haus sitzen und wartet ab. Dann handelt man.

Deflation ist für die Wirtschaft ungefähr das Gleiche wie Krebs für die Gesundheit. Jede Möglichkeit ihr vorzubeugen ist es wert, wahrgenommen zu werden. Die EZB musste nicht einmal die neuesten Vorhersagen für die Inflation im Euroraum abwarten, um zu wissen, dass sie handeln musste. Es war schon klar, dass die Zahlen beunruhigend sein würden. Im Oktober lag die Preissteigerung bei schockierend niedrigen 0,7 Prozent, während die EZB noch mit 0,9 Prozent gerechnet hatte. Alles sieht danach aus, dass sich Europa zumindest auf eine lange Phase mit niedriger Inflation einstellen muss.

Die gute Nachricht ist, dass die Inflationserwartung - und damit der wichtigste Indikator für Deflation - in der Eurozone stabil bei zwei Prozent verharrt. Der EZB-Rat handelte auch deshalb so entschlossen, weil er will, dass dies so bleibt.

Trotzdem haben einige deutsche Kommentatoren der Zentralbank eine Panikreaktion vorgeworfen. Aber ist es wirklich Panik, wenn ein Chirurg die Entscheidung trifft, einen Tumor zu entfernen, weil vieles darauf hinweist, dass er bösartig ist? Die Senkung des Leitzines war genau so ein entschiedener und notwendiger Schritt, wenn Europa vermeiden will, zu einem neuen Japan zu werden.

Weidmann, der Verlierer

Melvyn Krauss ist emeretierter Professor für Volkswirtschaft an der New York University
Melvyn Krauss ist emeritierter Professor für Volkswirtschaft an der New York University

Seit Jens Weidmann die Bundesbank leitet, ist es bereits das zweite Mal, dass sich die Deutschen bei einer wichtigen Entscheidung der EZB auf der falschen Seite wiederfinden. Beim ersten Mal ging es um das Anleihekaufprogramm, das mittlerweile weithin als gewaltiger Erfolg gilt. Deutschland wird in der EZB zusehends an Einfluss verlieren, wenn es wie bei den zwei wichtigsten geldpolitischen Entscheidungen der Ära Draghi weiterhin auf der Seite der Verlierer steht. Es ist ja nicht so, dass das Land unberührt bliebe, wenn sich in Europa eine Deflation breit macht. Auch die Deutschen würden leiden. Die deutsche Öffentlichkeit aber wird irgendwann die Frage stellen: Warum setzt sich unser Mann eigentlich nie durch?

Vermutlich aus purem Frust werfen manche in Deutschland EZB-Chef Mario Draghi vor, er habe den Leitzins nur gesenkt, um seinen Freunden zuhause in Italien einen Gefallen zu tun. Das ist purer Unsinn. Draghi ist seit Monaten damit beschäftigt, die Befürworter einer lockeren Geldpolitik abzuwehren, die im EZB-Rat zwar eine Mehrheit haben, aber zögern sie zu nutzen - auch weil der Zentralbankchef ein Interesse an einmütigen Beschlüssen hat. Mehr als einmal schlug sich Draghi dabei auf die Seite der Hardliner, um eine Zinssenkung zu verhindern. Dem Italiener wurde im Rat hinter vorgehaltener Hand sogar vorgeworfen, er handle wie ein Deutscher. Und nun werfen ihm einige Deutsche vor, er sei zu italienisch.

Wenn es also Draghis geheimes Ziel war, seinen Landsleuten eine Zinssenkung zu bescheren, dann stellt sich die Frage, warum er nicht viel früher in Aktion trat. Die Stimmen dafür hätte er gehabt.

Das größte Gemaule über die Zinssenkung ist bei deutschen Sparern zu hören. Doch selbst wenn es stimmt, dass der Schritt ihnen gegenüber unfair war, dann hatten sie ja zuvor profitiert - nämlich von dem Inflationsabbau, der der Entscheidung vorausging und sie letztlich ausgelöst hat. Der Abbau von Inflation nützt Sparern, weil er dazu führt, dass der reale Zinssatz steigt. Der EZB-Beschluss hat also schlicht den Mitnahmeeffekt ausgeglichen, der den Sparern infolge der gesunkenen Inflationsrate zugute gekommen war. Und es ist nicht ausgeschlossen, dass sich der Prozess der Disinflation noch fortsetzt.

Entlastung für den Steuerzahler

Darüber hinaus dürfte die Zinssenkung auch dazu beitragen, dass der Kapitalfluss nach Deutschland eingedämmt und Europas Peripherie entlastet wird. Die deutschen Sparer hatten einen hohen Preis dafür gezahlt, dass Deutschland zum "sicheren Hafen" in der Krise wurde. Und die Entscheidung der EZB gleicht dieses Problem nun ein wenig aus.

Doch es stellt sich ohnehin die Frage, ob man von der EZB erwarten kann, dass sie eine Deflation für ganz Europa in Kauf nimmt, nur um die deutschen Sparer bei Laune zu halten. Selbst die Steuerzahler in Deutschland werden von dem Schritt profitieren. Alles was den Schuldnerstaaten hilft, vermindert die Gefahr, dass Deutschland neues Geld in den Süden überweisen muss, um dort finanzielle Löcher zu stopfen.

Die Disinflation hatte die Zinszahlungen zu einer solch schweren Bürde gemacht, dass eine Leitzinssenkung nötig wurde, um den Schuldnern wieder etwas Luft zum Atmen zu verschaffen. Der Norden und Süden Europas sind gegenseitig voneinander abhängig. Es ist im gesamteuropäischen Interesse, dass die Verbindlichkeiten von deflationärem Druck befreit werden. Ähnliches gilt im übrigen für die Lage der europäischen Banken.

Draghi und der EZB-Rat haben sich zu ihrem großen Schritt entschieden, weil sie fest davon überzeugt waren, dass er Europa als Ganzem dient. Sie hatten Recht.

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