Bernd Ziesemer ist Capital-Kolumnist. Der Wirtschaftsjournalist war von 2002 bis 2010 Chefredakteur des Handelsblattes. Anschließend war er bis 2014 Geschäftsführer der Corporate-Publishing-Sparte des Verlags Hoffmann und Campe. Ziesemers Kolumne erscheint jeden Montag auf Capital.de. Hier können Sie ihm auf Twitter folgen.
Die deutsche Wirtschaft reagiert bisher sehr schmallippig auf den Skandal bei VW – zumindest in der Öffentlichkeit. Offene Worte waren bisher nur von sehr wenigen Spitzenmanagern zu hören, zum Beispiel von der Deutschen Bank. Die deutlichste Kritik an den Vorgängen in Wolfsburg stammt von dem ehemaligen Personalvorstand Thomas Sattelberger, der mehrere deutsche Konzerne von innen kennt. Der frühere Telekom-Manager spricht zu Recht von einer „Befehls- und Gehorsamskultur“ bei VW, ohne die man die jetzige Katstrophe nicht erklären könne. Sattelberger nennt in einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ aber auch andere Unternehmen wie etwa Siemens, wo bis heute ein ähnliches „autoritäres Regime“ herrscht.
Macht korrumpiert, absolute Macht korrumpiert absolut. Diese alte Erkenntnis der Politik gilt nicht minder in den Unternehmen. Wo der Chef allein und aus eigener Gnade regiert und nicht einmal seinen Aufsichtsrat fürchten muss, läuft irgendwann irgendetwas gewaltig schief. Wo Gehorsam von oben erzwungen und Kritik von unten erstickt wird, kann sich Fehlverhalten so lange ausbreiten bis es zu spät ist. Starke Chefs dulden starke Manager neben und unter sich; schwache Persönlichkeiten neigen dagegen dazu, sich ausschließlich mit noch schwächeren Persönlichkeiten zu umgeben.
Selbstkritik ist dem Betriebsrat fremd
In gut geführten Unternehmen gelten Regeln für alle gleichermaßen, in schlecht geführten stehen sie nur auf dem Papier. Neudeutsch nennt man es Corporate Governance – und sie ist eben kein Luxus, sondern eine dringende Notwendigkeit, wie der Fall VW zeigt. Ferdinand Piëch und Martin Winterkorn wollten das nicht einsehen; das Ergebnis ist bekannt.
In den meisten deutschen Unternehmen wäre ein ähnlicher Fall wie bei VW kaum möglich, weil die Checks and Balances funktionieren. Aber es gibt immer noch zu viele Ausnahmen bei uns. Einige Konzernchefs verwechseln gute Corporate Governance mit formaler Häkchen-Macherei. Sie erfüllen die Anforderungen des deutschen Governance-Kodex nur formal, aber leben sie nicht in der Praxis. In all diesen Unternehmen muss man jederzeit damit rechnen, dass sich der Fall VW wiederholt. Vielleicht nicht im gleichen Ausmaß, vielleicht nicht mit denselben Milliardenkosten, aber doch mit verheerenden Folgen.
Es ist kein Zufall, dass in Diskussionen über Corporate Governance immer wieder der Name Siemens fällt. Sattelberger ist keineswegs der einzige Insider, der vor der gefährlichen Unternehmenskultur in München warnt. Immer noch amtiert an der Spitze des Aufsichtsrats ein Mann wie Gerhard Cromme, der Thyssen-Krupp beinahe in den Abgrund regiert hätte und in seiner ganzen bisherigen Laufbahn bei zahlreichen Skandalen immer wieder im rechten Augenblick wegschaute. Wie Ferdinand Piëch bei VW, so ist auch Cromme ein Meister darin, die Betriebsräte der IG Metall fest in sein persönliches Herrschaftsregime einzubinden und sich damit faktisch unangreifbar zu machen.
Unter seiner Ägide konnte der heutige Siemens-Chef Joe Kaeser so gut wie alle starken Persönlichkeiten aus dem Vorstand drängen. Vorzugsweise regiert Kaeser mit einem kleinen Küchenkabinett an den Gremien vorbei. Kritik von unten dringt auch in diesem Konzern kaum noch durch, der Druck des Chefs verhindert offene Diskussionen. So etwas kann lange gut gehen, sehr lange sogar. Aber irgendwann wird es sich rächen.
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