Bernd Ziesemer ist Capital-Kolumnist. Der Wirtschaftsjournalist war von 2002 bis 2010 Chefredakteur des Handelsblattes. Anschließend war er bis 2014 Geschäftsführer der Corporate-Publishing-Sparte des Verlags Hoffmann und Campe. Ziesemers Kolumne erscheint jeden Montag auf Capital.de. Hier können Sie ihm auf Twitter folgen.
Wenn ein Börsengang floppt, liest und hört man immer wieder die gleichen Standardsprüche: Die „Kursturbulenzen“ der letzten Tage, die „schwache Gesamtverfassung“ des Aktienmarkts und die „generelle Skepsis“ der Anleger seien schuld. Auch bei Covestro, dem Chemie-Ableger des Bayer-Konzerns, gingen letzte Woche diese Floskeln durch den Äther. In Wahrheit zeigt das Beispiel des neuen Unternehmens: Die schlechte Börse, seit Tagen gebeutelt durch den VW-Skandal, erklärt keineswegs alles. Es kommen vielmehr mehrere negative Faktoren zusammen.
Da war die Gier der Bayer-Manager, die bei der Abspaltung der Tochter möglichst viel Geld machen wollten. Der Konzern verlangte bis zu 35,50 Euro für seine neuen Aktien – und musste seine oberste Preisspanne schließlich um fast ein Drittel senken. Eine gute Strategie für einen Börsengang sieht irgendwie anders aus.
Hinzu kommt: Die Anleger haben mit den Abspaltungen großer Konzerne in den vergangenen Jahren keine guten Erfahrungen macht. Das gilt gerade für Bayer selbst: Die erste Tranche des Chemiegeschäfts, die 2005 unter dem Namen Lanxess an die Börse ging, kämpft bis heute um eine nachhaltige Überlebensstrategie. Zwischenzeitlich musste das Unternehmen immer wieder unprofitable Bereiche ausgliedern, mehrere Restrukturierungsrunden überstehen und viele Mitarbeiter entlassen. Gerade brachte Lanxess sein gesamtes Kautschuk-Geschäft, fast 40 Prozent seines Umsatzes, in ein Joint-Venture mit einem saudi-arabischen Staatsunternehmen ein. Allein konnte der Kölner Konzern keine Perspektive für seinen bisherigen Kernbereich entwickeln. Die Erfahrungen mit Lanxess überschatten also den Börsengang von Covestro.
Schrumpfende Nachfrage aus China
Noch ein weiterer Faktor vermiest die Stimmung möglicher Investoren: Die Chemiebranche insgesamt steht unter Druck, wie das Beispiel der Nummer Eins zeigt. BASF legt gegenwärtig ein großflächiges Sparprogramm auf, um sich auf konjunkturelle und strukturelle Verwerfungen einzustellen. Weltweit trifft eine gesunkene Nachfrage auf ein wachsendes Angebot. Der Schlüssel für beide Entwicklungen liegt in China: Die chinesische Industrie schwächelt und fragt weniger Chemieprodukte nach. Und chinesische Chemiekonzerne machen den deutschen Marktführern gleichzeitig immer mehr Konkurrenz – und zwar nicht mehr nur mit Standardware, sondern auch mit echten High-Tech-Produkten.
Wer momentan also alle Chancen und Risiken für die deutsche Chemie gegenüber stellt, entdeckt nur wenige Gründe für den Kauf der Covestro-Aktien. Schon gar nicht zu einem überhöhten Preis. Der „Markt“, dieses unbekannte Wesen, handelt also in diesen Tagen beim Börsengang des Bayer-Ablegers nicht irrational, sondern erstaunlich rational.
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