Bernd Ziesemer ist Capital-Kolumnist. Der Wirtschaftsjournalist war von 2002 bis 2010 Chefredakteur des Handelsblattes. Anschließend war er bis 2014 Geschäftsführer der Corporate-Publishing-Sparte des Verlags Hoffmann und Campe. Ziesemers Kolumne erscheint jeden Montag auf Capital.de. Hier können Sie ihm auf Twitter folgen.
Viel ist in diesen Tagen bei VW die Rede von der dringenden Notwendigkeit eines Kulturwandels, ja Kulturbruchs im ganzen Konzern. Eine Frage ist dabei jedoch offensichtlich Tabu: die Mitbestimmung. In Wahrheit tragen jedoch die Betriebsräte und Aufsichtsräte der IG Metall eine gehörige Mitverantwortung für das System des Kadavergehorsams und der moralischen Blindheit, das sich über Jahre in Wolfsburg entwickelt hat. In keinem anderen deutschen Großkonzern verfügen die Vertreter der Arbeitnehmer über so viel Macht wie bei VW.
Von dem früheren Aufsichtsratschef Ferdinand Piëch stammt der Spruch, kein Vorstand könne sich bei VW gegen den Willen der Arbeitnehmer halten. So war es – und so ist es noch immer. Schlimmer noch: Auch in allen wichtigen Fragen der Strategie haben sich die Betriebsräte bei VW ein Mitspracherecht angemaßt, das allen Regeln einer guten Corporate Governance widerspricht.
In Wolfsburg ist über die Jahre ein Mitbestimmungssumpf entstanden, der eine normale Arbeitsteilung zwischen Vorständen, Aufsichtsräten und Betriebsräten ersetzt. Praktisch alle wichtigen Entscheidungen fallen in Kungelrunden mit den Arbeitnehmern. Für den Vorstand bedeutet das: Er muss beständig Deals mit dem Betriebsrat schließen, wenn er überhaupt etwas durchsetzen will. Die Folge ist eine groteske personelle Überbesetzung in allen deutschen Werken, den wichtigsten Machtbastionen der IG Metall. Der japanische Rivale Toyota produziert mit der Hälfte der Beschäftigten ungefähr genauso viele Autos wie VW. Und der Aufsichtsrat? Dort führt das besondere System der Mitbestimmung zu einer Praxis, die klar im Widerspruch zum Aktiengesetz steht. Statt die Sitzungen des Aufsichtsrats vorzubereiten, agiert das Präsidium praktisch wie eine Art Politbüro. Das Plenum nickt seine Beschlüsse nur noch ab wie einst das Zentralkomitee der SED in der DDR.
Selbstkritik ist dem Betriebsrat fremd
Solange sie nur die Interessen ihrer Klientel durchsetzen konnten, deckten die Betriebsräte in der Vergangenheit alle Winkelzüge der Konzernführung und auch die verrottete Unternehmenskultur. Sie selbst verloren dabei jede moralische Hemmung, wie mehrere Skandale in der Vergangenheit zeigten. Ihnen ging es (und geht es noch immer) um dreierlei: Um den Erhalt von möglichst vielen Arbeitsplätzen auch gegen alle wirtschaftliche Vernunft, um möglichst hohe Löhne auch gegen die Anforderungen des internationalen Wettbewerbs und um ihre persönliche Macht – auf Kosten einer vernünftigen Corporate Governance.
Um die hohen Personalkosten im Konzern wettzumachen, verlegten sich die VW-Vorstände in der Vergangenheit auf die Suche nach immer neuen unorthodoxen technischen Lösungen. Teilweise brachte dieser selbst gemachte Wettbewerbsdruck den Konzern weiter. Aber auch die Dieselgate-Affäre in diesen Wochen wäre ohne diese Gemengelage nicht erklärbar. Am Anfang des Betrugs mit einer gesetzwidrigen Software stand der außergewöhnliche Kostendruck, unter den der VW-Vorstand die Entwickler der neuen Dieselmotoren gesetzt hatte.
Die Betriebsräte fühlen sich selbstredend für all das kein bisschen mitverantwortlich. Von ihrem Chef Bernd Osterloh war in der ganzen Affäre noch kein einziges selbstkritisches Wort zu hören.
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