An einem Abend im Winter saßen die Chefs mehrerer Digitallabore in Köln. Da fragte einer: Brauchen wir Einhörner?
Die Anwesenden, allesamt Vertreter großer, traditionsreicher deutscher Konzerne, stutzten – und einige griffen erst einmal zur Wasserflasche. Die Frage traf ins Mark. Sie betraf ihr Selbstverständnis. Ist es das Ziel der sogenannten Innovationseinheiten von Unternehmen, „Einhörner“ zu schaffen – also Projekte, die so aussichtsreich sind, dass sie einmal mit 1 Mrd. Dollar oder mehr bewertet werden? Oder ist das vermessen? Geht es nicht eher darum, viele kleine Verbesserungen für die Konzerne zu erreichen? Und ein Verständnis für die Digitalisierung an sich zu entwickeln?
Die Debatte zeigt nicht zuletzt eins: Es wird ernster für die Denkschmieden und Ausprobierbuden der deutschen Unternehmen. Zwei Drittel aller Dax-Konzerne und viele Mittelständler halten sich mittlerweile solche Innovationsteams . Als Reaktion auf Facebook und Google, aber auch aus dem Gefühl heraus, dass irgendwo da draußen eine große Chance liegt. Was lange als spaßige Angelegenheit mit Sitzsäcken, Obsttellern und bunten Zetteln galt, steht nun allerdings unter schärferer Beobachtung. Die Labore müssen liefern – wenn keine Einhörner, so doch erkennbare Beiträge zum Ergebnis.
Im vergangenen Jahr hatte Capital gemeinsam mit der Hamburger Managementberatung Infront Consulting erstmals die Leistungen dieser Digitallabore unter die Lupe genommen und bewertet . Nun folgt die zweite, noch größere und intensivere Analyse. Ausschlaggebend waren diesmal nicht nur die Selbstauskunft der Teams, sondern auch ausgedehnte Gespräche mit Mitarbeitern und Besuche in ihren Büros. Geprüft wurden Acceleratoren, also Einheiten, die gezielt nach passenden Start-ups suchen, reine Innovation-Labs sowie als neue Kategorie Company-Builder, die für den Konzern neue Unternehmen in die Welt setzen sollen. Das Ergebnis ist ein Ranking aller Labore, die bei einem Höchstwert von 5,0 eine Gesamtwertung von 3,0 oder besser erreicht haben. Fast 60 Teams haben insgesamt an der Studie teilgenommen, annähernd doppelt so viele wie im Vorjahr.
Wer mit den Laborchefs und ihren Vorgesetzten in den Unternehmen spricht, merkt vor allem, dass die Erwartungshaltung steigt. „Die Konzerne trimmen die Labore zunehmend darauf, mehr Ergebnisse zu liefern“, sagt Thomas Sindemann, Partner bei Infront und Leiter der Studie. „Denn der Wertbeitrag zum Geschäft ist bisher noch gering.“
Der Welpenschutz greift also nicht mehr. In vielen Büros ist das auch optisch zu erkennen. Die Kickertische sind verschwunden oder stehen verwaist auf dem Flur. Dafür wird schlicht mehr gearbeitet. Das Büro der Daimler-Einheit Digital Life in Stuttgart-Untertürkheim zum Beispiel liegt gleich neben der Werkklinik – und sieht auch ungefähr so aus: weiße Wände, kein Schnickschnack, Arbeitsplätze, Punkt. „Es wird schärfer nachgefragt, was da eigentlich genau läuft“, sagt Julian Kawohl, Professor für Strategisches Management an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin. „Die Zügel werden angezogen.“
Castingshow im Konzern
Die neue Ernsthaftigkeit trägt Früchte, wenn auch noch keine großen. Fast alle Labore, die sich in der Bestenliste finden, können konkrete Produkte vorweisen, die sie auf den Weg gebracht haben, oder Start-ups, die für den Konzern neue Dienstleistungen vorantreiben. Beispiele? Ein Fenster mit integrierter Alarmanlage beim Polymerverarbeiter Rehau. Eine Tracking-Box für Lastwagen beim Autozulieferer BPW. Intelligente Straßenlaternen beim Energiekonzern EnBW.
All das erfindet nicht die Welt neu. Vieles ist eher im Bereich Prozessoptimierung zu verorten, den deutsche Konzerne im Grunde seit Jahrzehnten gut beherrschen. Aber es ist kaum zu leugnen, dass bei den Unternehmen etwas in Bewegung geraten ist – und dass die Bewegung ansteckend wirkt. „Es wird vermutlich eine Zweiteilung geben“, sagt Studienleiter Sindemann: „Die einen Labore werden sich um Produkt- und Prozessentwicklung kümmern – das muss eng mit dem Kerngeschäft verknüpft sein. Die anderen kümmern sich um neue Geschäftsmodelle.“
Gerade für Letztere wird mit neuen Formen experimentiert. Bei vielen Unternehmen laufen Projektwettbewerbe im Stil der Fernsehsendung „Die Höhle der Löwen“. Mitarbeiter dürfen sich mit Ideen bewerben und die Ideen anderer bewerten. Am Ende müssen sie – wie bei Daimler – vor einer Jury aus Vorständen und Experten von außen präsentieren. Manche lernen dabei, unternehmerisch zu denken, andere entdecken den Erfinder in sich. Manche stellen fest, dass all das nichts für sie ist, und kehren zurück in ihren angestammten Job. Auch das gehört dazu, wenn Konzerne Innovationen produzieren wollen.
An der Spitze der von Capital und Infront getesteten Innovationsteams stehen zum Teil Unternehmen, die schon im vergangenen Jahr ganz oben mit dabei waren. Darunter der Lufthansa Innovation Hub, der eine besondere Fähigkeit entwickelt hat, Ideen schnell groß zu machen, also zu „skalieren“, wie es in der Szene heißt. Oder WATTx, ein Ableger des Heiztechnikunternehmens Viessmann, der mittlerweile Unternehmensaufbau als Dienstleistung für andere Mittelständler anbietet.
Es finden sich an der Spitze aber auch neue Teams wie das Digital Base Camp des Industriegaseherstellers Linde. Oder die Deutsche Bahn, die mit ihrem Accelerator Mindbox vor allem bei der Steuerung durch den Konzern punktet. Insgesamt wird es an der Spitze enger – was zeigt, dass immer mehr Labore ihre Lehren aus früheren Fehlern ziehen oder von anderen lernen.
Bei Großkonzernen wie der Bahn spielt ein Problem eine Rolle, mit dem sich Mittelständler nicht herumschlagen müssen. Bei vielen Marken und Geschäftsbereichen gibt es oft nicht nur eine, sondern eine ganze Armada von Innovationsschmieden. Deren Aufgaben muss man irgendwie voneinander abgrenzen. So operiert der Volkswagen-Konzern mit einem weltweiten Netzwerk von fast 40 Teams, in denen nach Angaben des Unternehmens über 2.000 Experten arbeiten. Einige von ihnen wie das Porsche Digital Lab oder das Data:Lab des Konzerns in München finden sich auch in der Bestenliste wieder. Die große Kunst wird darin bestehen, die vielen Ansätze aufeinander abzustimmen und zu verhindern, dass mehrere Teams parallel nach dem gleichen Stein der Weisen suchen.
Keine Lust aufs Haupthaus
Noch etwas fällt auf: Welches Lab man auch besucht, überall loben die Mitarbeiter die Freiräume, die sie nach wie vor genießen – trotz der strengeren Blicke aus den Vorstandsetagen. Oft wird noch unterschieden zwischen der eigenen Welt und der Kernorganisation, in der alles angeblich langsamer und umständlicher läuft. Daraus ergibt sich ein weiteres Problem für die Konzerne. Die Bereitschaft der Innovationsteams, ins Haupthaus zu wechseln, ist in der Regel nämlich ausgesprochen gering. „Wäre ich nicht in dieser Einheit gelandet, hätte ich mit Sicherheit bald gekündigt“, sagt etwa eine leitende Mitarbeiterin eines Labors.
Das heißt konkret: Aus den Innovationsteams lassen sich kaum Führungskräfte fürs Kerngeschäft rekrutieren. „Das sind High Potentials“, sagt Sindemann. „Das wird aber oft gar nicht genutzt, auch weil die betreffenden Kandidaten ihre Freiheiten nicht aufgeben möchten.“
Fremdkörper bleiben die Labore also nach wie vor, wie Philipp Karmires vom Linde Digital Base Camp einräumt. Auch wenn die Konzerne zunehmend überzeugt sind, dass sie diese Fremdkörper brauchen.
Die besten Digi-Labs
Von den fast 60 Entwicklungsteams deutscher Unternehmen, die sich insgesamt an der Studie beteiligten, gehörten die meisten zur Kategorie der Innovation-Labs. Konzerneigene Entwicklungshelfer für Start-ups wurden in der Kategorie Acceleratoren bewertet. Labore zum gezielten Aufbau von Jungunternehmen wurden in der neuen Kategorie Company-
Builder bewertet. In der Tabelle werden nur die besten aufgeführt – alle, die einen Gesamtwert von 3,0 oder mehr erreichten.
So wurden die Laboren bewertet
Für die Studie hat die auf Digitalisierung spezialisierte Beratung Infront Consulting ein klares Raster entworfen: acht Faktoren, jeweils eingeordnet auf einer Skala von eins (wenig erreicht) bis fünf (optimal)
- Ambition: Wie hoch sind die Ziele in Bezug auf digitale Innovation und Transformation gesteckt? Sollen Veränderungen eher schrittweise oder auch disruptiv erreicht werden?
- Zielerreichung: Inwieweit konnten die angepeilten Ziele erreicht werden – und wo muss noch deutlich nachgelegt werden?
- Steuerung: Welche Vorgaben bekommt das Lab vom Top-Management? Wie gut ist die Balance zwischen Freiheit und klaren Zielen?
- Themen: Wie und durch wen erfolgt die Auswahl der Themen und Geschäftsideen, an denen gearbeitet wird?
- Einbindung: Wie eng ist der Ableger mit anderen Geschäftseinheiten verzahnt, und wie effektiv ist diese Anbindung organisiert?
- Methoden: Wird der Werkzeugkasten von Start-ups – rascher, simpler Test von Produktideen, schlanke Prozesse, interdisziplinäres Arbeiten – verstanden und sinnvoll eingesetzt?
- Skalierung: Sind Lab und Konzern bereit und in der Lage, eine gute Idee wirklich groß zu machen?
- Netzwerk: Wie gut ist das Team vernetzt mit Partnern und Kunden, und wie stark kann es sie bei der Suche nach neuen Ideen einbinden?