Der Bundesgerichtshof (BGH) fasst jedes Jahr unzählige Beschlüsse, nur die wenigsten davon schlagen in der Öffentlichkeit hohe Wellen. Auch die Entscheidung, die der IX. Zivilsenat des BGH Mitte Oktober veröffentlichte, gehört zu diesen weithin unbeachteten Beschlüssen. Und doch ist sie von grundsätzlicher Bedeutung – vor allem für Insolvenzverwalter und Gläubiger von insolventen Unternehmen. Nach dem Beschluss haben Insolvenzverwalter keinen Anspruch auf eine höhere Vergütung, wenn es in einem Verfahren besonders viele Gläubiger gibt. In einem prominenten Fall hat die Entscheidung bereits konkrete Folgen: Der Verwalter der 2017 Pleite gegangenen Fluggesellschaft Air Berlin zog seinen Antrag auf ein Millionenhonorar vorerst zurück.
In dem Fall, über den der Bundesgerichtshof entscheiden musste, ging es um die Insolvenz des Energieversorgers Care Energy, gegen den mehrere Zehntausend Stromkunden Forderungen angemeldet hatten. In ihrem bereits am 22. Juli gefassten Beschluss entschieden die obersten Zivilrichter aber nicht nur für den konkreten Fall. Sie formulierten auch ihre Rechtsauffassung in einer ähnlich gelagerten Grundsatzfrage, in der sich in absehbarer Zeit keine Gelegenheit zu einer Äußerung bietet – unter Juristen eine Entscheidung „obiter dictum“ genannt, lateinisch für nebenbei Gesagtes. Nach der Auffassung des BGH ist bei juristischen Personen wie Unternehmen eine Erhöhung der Mindestvergütung für den Sachwalter oder Insolvenzverwalter nach Anzahl der Gläubiger „nicht anwendbar“ – anders als etwa bei Privatinsolvenzen.
Vergütungsantrag zurückgezogen
Die Nebenbei-Äußerung aus Karlsruhe ist auch in Berlin angekommen, wo das Landgericht Charlottenburg über das Honorar für den Sachwalter bei Air Berlin zu befinden hatte. Deutschlands führender Airline-Sanierungsexperte Lucas Flöther, der zwischen August 2017 und Januar 2018 bei der Fluggesellschaft zunächst als Sachwalter in einem Verfahren in Eigenverwaltung berufen war und seither als Insolvenzverwalter amtiert, hatte bei dem zuständigen Insolvenzgericht für sich und seine 150 beteiligten Mitarbeiter für die gut fünfmonatige Dauer der Sachwaltung eine Vergütung in Höhe von 22 Mio. Euro plus Steuern beantragt. Gegen Flöthers Vergütungsantrag hatten der Rechtsdienstleister Airdeal und ein Kleingläubiger im Frühjahr 2019 Beschwerde eingereicht.
Nach Ansicht der Kritiker, die von der Düsseldorfer Kanzlei Lambrecht vertreten wurden, soll der Vergütungsantrag nicht nur formelle Mängel aufgewiesen haben. Es sei auch unzulässig, dass bei der Berechnung des Honorars auf einen Passus in der insolvenzrechtlichen Vergütungsverordnung abgestellt wurde, wonach sich die Vergütung nicht allein an der Insolvenzmasse bemisst, sondern auch an der Zahl der Gläubiger. Bei Air Berlin hatten rund 1,3 Millionen Gläubiger Forderungen angemeldet, die große Mehrzahl Fluggäste – so viele wie wohl noch in keinem Insolvenzverfahren in Deutschland. Daher führte die Anwendung des Passus zu einer erheblichen Erhöhung der von Flöther beantragten Vergütung als Sachwalter: Dieser sieht ab einer Zahl von 31 Gläubigern einen Aufschlag von 140 Euro je angefangene fünf Gläubiger vor.
Über die Beschwerde gegen die Festsetzung des Sachwalterhonorars auf insgesamt 26.146.690,31 Euro musste eigentlich das Landgericht Berlin entscheiden. Dort tat sich seit 2019 lange wenig, erst nach der jüngsten Äußerung des BGH gab es Bewegung. Zu einer Entscheidung des Landgerichts wird es jedoch nicht mehr kommen: Ende Oktober hat Flöther seinen Vergütungsantrag zurückgezogen, wie ein Sprecher auf Anfrage von Capital bestätigte. Als Grund nannte er den BGH-Beschluss, aus dem sich „veränderte rechtliche Rahmenbedingungen“ für die Vergütung von Sachwaltern und Insolvenzverwaltern ergeben hätten. Flöther werde nun bis zum Jahresende einen neuen Antrag stellen, der den Vorgaben des BGH Rechnung trage, sagte sein Sprecher.
Auch für andere Insolvenzverfahren wird die Entscheidung der Karlsruher Richter Folgen haben – zumindest in jenen Fällen, bei denen es sehr viele Gläubiger gibt, etwa bei Strom- und Gasanbietern. In dieser Branche hatte es in den vergangenen Jahren größere Pleiten wie etwa bei Teldafax gegeben. Wegen der aktuellen Preisexplosion an den Energiemärkten haben zuletzt mehrere kleinere Firmen Insolvenz angemeldet.
Massenverfahren betroffen
Bei den Fällen, die von den neuen Vorgaben des Bundesgerichtshofs betroffen sind, handle es sich allerdings um eine „verhältnismäßig kleine Gruppe von Verfahren“, betonte Flöthers Sprecher. Daher rechne Flöther, der auch Sprecher des Gravenbrucher Kreises ist, in dem sich Deutschlands führende Insolvenzverwalter zusammengeschlossen haben, „nicht mit nennenswerten Auswirkungen auf die Branche als Ganzes“. Eine andere Frage sei, ob die Entscheidung des BGH auch der Tatsache genügend Rechnung trage, dass Verfahren mit sehr vielen Gläubigern mit besonders hohem Aufwand und besonders hohen Risiken für die Verwalter verbunden seien, erklärte der Sprecher von Flöther. „Das ist jedoch eine Frage, mit der sich der Gesetzgeber auseinandersetzen müsste.“
Der Düsseldorfer Sanierungs- und Insolvenzexperte Martin Lambrecht, der federführend für die Beschwerde gegen die Vergütung bei Air Berlin verantwortlich war, begrüßte die Entscheidung des BGH. „Insolvenzverwalter sollen für gute Arbeit auch gut verdienen. Aber es muss ein gesundes Maß geben“, sagte er Capital. Für sein Engagement an der Seite der Beschwerdeführer hatte Lambrecht aus der Branche viel Kritik erfahren. Bei der Vergütung der Verwalter, die aus der Insolvenzmasse bezahlt wird, gehe es aus seiner Sicht auch um eine Frage der Wirtschaftsethik, sagte Lambrecht.
Bei der Airline ist auch mehr als vier Jahre nach der Insolvenz ein Ende des Verfahrens nicht absehbar. Angesichts der hohen Zahl an Gläubigern rechnet Insolvenzverwalter Flöther mit einer Dauer von bis zu zehn Jahren. Unter anderem läuft ein Rechtsstreit mit der Airline Etihad, in dem es um die Frage geht, ob der frühere Air-Berlin-Großaktionär aus Abu Dhabi auf Basis eines Comfort Letters verpflichtet gewesen wäre, weitere Finanzmittel bereitzustellen. Bei der Schadensersatzklage gegen Etihad, über die nach einem Streit um Zuständigkeiten nun der High Court in London entscheidet, geht es um mindestens 500 Mio. Euro. Zuletzt hatte Flöther bekannt gegeben, dass er die juristisch umstrittenen Forderungen gegen Etihad an Hedgefonds verkaufen will. Auf diese Weise könnte der Insolvenzverwalter relativ zügig Geld für die Air-Berlin-Gläubiger eintreiben. Nach Angaben von Flöthers Sprecher läuft der Verkaufsprozess derzeit „unverändert“. Zu Details könne man sich aufgrund von Verschwiegenheitspflichten nicht äußern.
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