Vor wenigen Tagen hat der Gründer des Münchner Start-ups Finn.Auto im Interview mit Capital eingeräumt, bei einer Firmenfeier mehrere Mitarbeiterinnen sexuell belästigt zu haben. Der Vorfall liegt anderthalb Jahre zurück, das Unternehmen hatte ein internes Aufklärungsteam für die Aufarbeitung eingesetzt. Meier hatte sich zweieinhalb Monaten zurückgezogen, kehrte dann aber auf seinen CEO-Job zurück.
Nachdem der Vorfall nun öffentlich wurde, hat die Staatsanwaltschaft München Ermittlungen aufgenommen. „Wir haben aufgrund der Berichterstattung unsererseits ein Verfahren eingeleitet und prüfen die geschilderten Vorgänge in strafrechtlicher Hinsicht“, bestätigte Oberstaatsanwältin Anne Leiding gegenüber Capital. Finn.Auto-Chef Meier, der den Vorgang längst für aufgeklärt gehalten hatte, kündigt daraufhin seinen Rücktritt an.
Der Vorgang ist ein Lehrstück für Unternehmen. Verstöße gegen Regeln und Gesetze gibt es in vielfältiger Ausprägung. Aber wie gut sind Unternehmen dafür gewappnet und wie gehen sie damit um? Die Ex-Staatsanwältin und Forensikerin Marie-Christine Döscher gibt im Interview Antworten.
Frau Döscher, wie gut kennen Sie sich mit Me-Too-Fällen in der deutschen Wirtschaft aus?
MARIE-CHRISTINE DÖSCHER: Ich bin bei PwC Deutschland für die Aufarbeitung von Wirtschaftskriminalität zuständig, dazu gehören klassische Fälle wie Untreue, Unterschlagung oder Betrug. Hinzu kommen alle anderen Formen von regelwidrigem Verhalten im Unternehmen. In den letzten anderthalb bis zwei Jahren haben uns vermehrt Unternehmen gebeten, sie bei der Aufklärung von sexualisierten Übergriffigkeiten zu unterstützen. Die Me-Too-Bewegung hat für eine öffentliche Wahrnehmung von Sexismus und sexualisierter Gewalt gesorgt. Das führt zum einen dazu, dass sich mehr Betroffene oder potenziell Geschädigte trauen, über Missstände zu sprechen. Und zum anderen haben auch die Unternehmen erkannt, dass sie Risiken – etwa mit Blick auf ihre Reputation oder finanzielle Folgen – eingehen, wenn sie entsprechenden Anhaltspunkten für mögliche Verstöße nicht nachgehen.
Wer ist verantwortlich für die Aufklärung solcher Anhaltspunkte?
Grundsätzlich haben Geschäftsführer oder Vorstände sowie die Überwachungsorgane, also Aufsichtsrat oder Verwaltungsrat, eine gesetzlich vorgeschriebene Sorgfaltspflicht gegenüber den Eigentümern und Kapitalgebern ihres Unternehmens. Wenn es Anhaltspunkte auf ein Fehlverhalten gibt, müssen diese verantwortlichen Personen denen nachgehen. Sie brauchen eine größtmögliche Transparenz, um zu verstehen, was passiert sein könnte. Dafür muss in alle Richtungen ermittelt werden und sowohl belastenden als auch entlastenden Spuren nachgegangen werden. Um dieses Ziel zu erreichen, stellt sich von vornherein die Frage, wer so eine objektive Ermittlung vornehmen kann.
Das ist genau Ihr Job. Deshalb raten Sie vermutlich dazu, das externen Beratern wie Ihnen zu überlassen?
Es kann natürlich auch professionelle Teams im Unternehmen geben, die so etwas angehen. Die Entscheidung für ein internes oder für ein externes Aufklärungsteam hängt meiner Meinung nach von einigen kritischen Erfolgsfaktoren ab: Das Aufklärungsteam muss als objektive Instanz wahrgenommen werden. Es sollte bei keinem Beteiligten der Anschein der Voreingenommenheit erweckt werden. Zudem muss Vertraulichkeit gewahrt sein, indem nur der Kreis der beteiligten Personen oder Zeugen an der Aufarbeitung mitwirken. Und es ist auch wichtig, dass die Untersuchung, die für alle Beteiligten in der Regel unbekannt und unangenehm ist, zeitnah und rasch erfolgt.
Was ist zeitnah und rasch – können Sie das konkretisieren?
Pauschal gilt natürlich: Je mehr Zeit vergeht, desto mehr verblasst auch die Erinnerung. Für den Start einer Untersuchung reicht es allerdings nicht, dass eine Vermutung oder ein ungutes Gefühl geäußert wurde. Aber wenn ein Anfangsverdacht mit konkreten Anhaltspunkten für ein Fehlverhalten vorliegt, dann sollte auch zügig mit der Ermittlung gestartet werden. Dafür sollte das Aufklärungsteam zunächst eine Strategie und ein Ziel festlegen, was in der Regel ein Abschlussbericht ist, in dem das Vorgehen, die Methoden sowie die Erkenntnisse beschrieben werden. Und wenn das von der Unternehmensführung gewünscht ist, können dann auf der Grundlage des Abschlussberichts auch entsprechende Handlungsempfehlungen ausgesprochen werden, um mögliche Schwachstellen im Unternehmen zu schließen und um die Wahrscheinlichkeit für den Eintritt eines ähnlichen Vorfalles in der Zukunft zu reduzieren.
Wie lange dauert so eine Ermittlung bei Verdacht auf sexuelle Übergriffe?
Es kommt darauf an, ob wir als Grundlage nur die Aussagen von Personen haben, mit denen wir Interviews führen, oder ob es auch noch schriftliche Dokumentationen, beispielsweise Emails oder Chats, gibt. Diese technische Analyse und Auswertung von Kommunikation nimmt deutlich längere Zeit in Anspruch. Es hängt zudem davon ab, ob wir einen Einzelfall untersuchen oder ob es mehrere geschädigte Personen gibt und ob sich innerhalb der Ermittlungen noch mal Widersprüche oder ganz neue Erkenntnisse auftun. Im besten und einfachsten Fall dauert es etwa vier bis sechs Wochen, mit jeder zusätzlichen Komplexität dauert es entsprechend länger. Aber da sprechen wir über Fälle von Sexismus, also Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, die regelmäßig nicht in den strafrechtlichen Bereich fallen. Dabei geht es etwa um unangemessene verbale oder schriftliche Äußerungen, oder es geht darum, dass sich jemand zu nah über einen Kollegen beugt, also keine ausreichende, körperliche Distanz wahrt, oder dass jemand auf das Dekolleté einer Mitarbeiterin starrt. Sobald es zu körperlichen Berührungen kommt, kann es in den strafrechtlichen Bereich gehen. Auch hier können wir beratend unterstützen und im Auftrag der Unternehmen ermitteln. In solchen Fällen empfiehlt es sich, die Behörden einzuschalten.
Sie haben selbst als Staatsanwältin gearbeitet. Welche Schritte erfolgen bei Me-Too-Fällen, wenn ein Verfahren eingeleitet wird?
Die Untersuchungshandlungen im Rahmen eines behördlichen Ermittlungsverfahrens ähneln denen einer internen Untersuchung. Auch hier ist es das Ziel der unabhängigen Ermittlungspersonen, sämtliche be- und entlastende Beweismittel zu identifizieren und auszuwerten, um so am Ende den Tatnachweis führen zu können oder aber das Verfahren aus Mangel an Beweisen einzustellen.
In welchen Fällen kommt es zu einer Anklage?
Voraussetzung für die Erhebung einer Anklage ist das Vorliegen eines sogenannten hinreichenden Tatverdachts. Der liegt vor, wenn bei vorläufiger Bewertung sämtlicher vorliegender Beweismittel eine Verurteilung der beschuldigten Person wahrscheinlicher ist als ein Freispruch. Alternativ kann unter gewissen Voraussetzungen auch der Erlass eines Strafbefehls beantragt werden. Dies kann insbesondere dann angezeigt sein, wenn die beschuldigte Person geständig und die Beweislage eindeutig sind und es einer Hauptverhandlung zur Einwirkung nicht bedarf.
Welche strafrechtlichen Konsequenzen können in einem Fall von sexuellen Übergriffen erfolgen?
Je nach Tatvorwurf – wie beispielsweise Beleidigung oder etwaigen Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung – sieht das Strafgesetzbuch eine Geld- oder Freiheitsstrafe zur Ahndung vor. In Abhängigkeit von zahlreichen gegeneinander abzuwägenden Faktoren wie Unrechtsgehalt, Einzelfall oder Wiederholungstat, Einsicht der angeschuldigten Person unter anderem kann es im Falle eines gerichtlichen Verfahrens zu einer Verurteilung oder aber zu einer Verfahrenseinstellung beispielsweise gegen Geldauflage kommen.
Hinweis: Betroffene von sexueller Belästigung können sich an das Hilfe- und Beratungstelefon der Antidiskriminierungsstelle des Bundes wenden. Die Nummer lautet 030-185551855. Weitere Hilfsangebote listet die Behörde auf ihrer Webseite www.antidiskriminierungsstelle.de.
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