Irgendwann hat Emin S. es einfach nicht mehr ausgehalten. „Liebe Follower, ich würde gerne diese beunruhigende Wahrheit über Finns Vergangenheit mit euch teilen“, schreibt der Programmierer Mitte April in einer Nachricht auf der Karriereplattform Linkedin.
Finn, das ist Emins Arbeitgeber, ein aufstrebendes Start-up aus München, rund 400 Beschäftigte, das über eine App Autos anbieten, die man gegen eine monatliche Gebühr abonnieren kann. Und die Wahrheit, die er nun öffentlich machen will, hat es in sich: Es gehe um die „mehrfache sexuelle Belästigung“ von Mitarbeiterinnen, schreibt Emin, und anders als der Bericht, auf den er darunter verlinkt, nennt er auch das Unternehmen und den Beschuldigten: Firmengründer und CEO Max-Josef Meier (38).
Nicht nur die Namensnennungen, seine eigene, die seines Arbeitgebers und Chefs, machen seinen Eintrag so ungewöhnlich. Die Nachricht verbreitet sich, zieht Kreise – und bewegt den beschuldigten Finn-Chef Max-Josef Meier in dieser Woche schließlich zu einem ebenso ungewöhnlichen Schritt: Von Capital konfrontiert mit den Vorwürfen, räumt Meier alles ein.
Seit Ende 2021 rumort es in der Belegschaft seines Unternehmens. Nach Informationen von Capital ereignete sich der Vorfall bei der Weihnachtsfeier, insgesamt soll es an jenem Abend zu neun Fällen von sexueller Belästigung gekommen sein. Meier bestätigt das gegenüber Capital. Er sei stark alkoholisiert gewesen und habe keine Erinnerungen mehr an die Vorfälle, sagt der Finn-Chef. Er verweist allerdings auch auf die monatelange interne Aufarbeitung des Geschehens an jenem Abend, eine eigens eingerichtete Kommission, und ihm tue das alles aufrichtig leid.
Lehrstück über den Umgang mit sexueller Belästigung
Die Aussagen von Meier, die Capital teils durch Aussagen von Mitarbeitern und internen Dokumenten verifizieren konnte, zeichnen jedoch das Bild eines völlig überforderten Unternehmens. Der Fall ist damit auch ein Lehrstück darüber, wie groß der Aufholbedarf in Deutschland im Umgang mit sexueller Belästigung am Arbeitsplatz ist.
So macht Emin S., der bei der Weihnachtsfeier nach eigener Aussage selbst nicht dabei war, die Entscheidung der Firma fassungslos, Meier auf seinem Posten zu belassen. Er habe sein Unbehagen und die psychische Belastung durch Meiers Verbleiben mehrfach geäußert, schreibt Emin auf Linkedin. „Aber er hat darauf bestanden, in seiner Position zu bleiben.“

Entgleisungen und Übergriffe am Arbeitsplatz sind in Deutschland keine Seltenheit. Laut einer Umfrage der Antidiskriminierungsstelle des Bundes hat jeder elfte Erwerbstätige in Deutschland schon einmal sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz erfahren. In gut drei Viertel der Fälle betrifft es Frauen. Die Dunkelziffer dürfte noch viel höher sein. Viele Opfer machen ihre Erfahrungen nie öffentlich, obwohl sie sogar einen Anspruch auf Schadensersatz beim Arbeitgeber geltend machen könnten. Etwa aus Angst, ihrer Karriere und den Kollegen zu schaden. Oder aus Sorge vor Vergeltung.
Auch die Betroffenen bei Finn, die Capital kontaktieren konnte, wollten sich nicht zu den Vorfällen bei der Weihnachtsfeier äußern. Gerade in der männerdominierten Start-up-Szene ist sexuelle Belästigung bislang ein Tabu-Thema: Jeder weiß, dass es passiert, aber niemand spricht darüber.
Finn-CEO Meier schildert die Vorfälle
Umso ungewöhnlicher ist der Fall des Finn-Chefs Max-Josef Meier, der im Interview mit Capital reinen Tisch machen will und die Flucht nach vorne sucht. Wenige Tage nach dem Linkedin-Post seines Programmierers erklärt er sich zu einem Videocall bereit. Meier – ein schmaler Mann mit zurückgekämmtem dunkelblondem Haar –, spricht langsam, ringt sichtbar um Fassung, bittet an einer Stelle um eine Pause. Offenbar schaut er während des Gesprächs auch immer wieder auf ein Dokument auf seinem Bildschirm. Noch nie hat ein CEO so offen über die eigenen Fehltritte gesprochen.