Wer in den Beirat Junge Digitale Wirtschaft berufen wird, zählt zu den erfolgreichsten und angesehensten Persönlichkeiten der Startup-Szene. Das Gremium aus 29 Gründern, Investoren und Digitalexperten berät Wirtschaftsminister Peter Altmaier in Technologie- und Startup-Fragen. Meistens geht es dabei um unverfängliche Themen, etwa um digitale Bildung, Künstliche Intelligenz oder Fachkräftesicherung. In einem Dokument widmet sich der Beirat jedoch nun einem gänzlich anderen Thema: Eine Arbeitsgruppe des Beirats fordert darin recht unverblümt eine Einschränkung der Pressefreiheit.
In dem „Positionspapier zum Thema Börsengänge Deutscher Startups“ monieren die Autoren ein „regelrechtes IPO- und New-Economy-Bashing unter Finanzredakteuren“. Aus Ihrer Sicht sei es daher geboten, Medien konkrete Vorschriften für die Berichterstattung zu machen. In dem Papier fordern sie unter anderem „die Verpflichtung der Presse zur Berichterstattung auch über kleine IPOs“ und die „Disziplinierung der Presse zu sachlicher, richtiger und vollständiger Information“. In anderen Worten: Der Artikel fünf des Grundgesetzes zur Meinungs- und Pressefreiheit soll zugunsten einer Image-Politur für Tech-Börsengänge beschnitten werden.
Das Positionspapier steht schon seit Mitte April auf der Webseite des Ministeriums. Erst ein Bericht des Handelsblatts lenkte die öffentliche Aufmerksamkeit auf den brisanten Inhalt. Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) erklärte bei Twitter , dass ihm das Positionspapier nicht bekannt gewesen sei. „Pressefreiheit ist ein herausragendes Grundrecht, dessen Schutz wir verpflichtet sind“, so Altmaier. Er habe die Entfernung des Dokuments angeordnet.
Kritik von Linkspartei, FDP und Grünen
Im politischen Berlin sorgt das Demokratieverständnis der Startup-Köpfe für Verwunderung und Kritik. Der Linken-Bundestagsabgeordnete Fabio de Masi, zuletzt einer der Chefaufklärer im Wirecard-Skandal, schimpft gegenüber Capital: „Die Börse ist kein Ponyhof – auch nicht für Einhörner! Wer meint, kritische Berichterstattung – die sachlich nicht zu beanstanden ist – staatlich einschränken zu müssen, hat aus der Wirecard-Pleite nichts gelernt.“ De Masi mahnt zudem personelle Konsequenzen an: „Dass so ein Statement auf der Seite des Wirtschaftsministeriums landet, ist grotesk! Beim Beirat Junge Digitale Wirtschaft muss dringend durchgelüftet werden!“
Der Grünen-Startup-Experte Dieter Janecek hält den Vorschlag des Beirats für „gänzlich indiskutabel“, weil damit „Investoreninteressen vor Transparenz und rechtsstaatliche Kontrolle“ gestellt würden. Gegenüber Capital kritisiert Janecek den Lobbyeinfluss auf das Wirtschaftsministerium – und wundert sich, „dass das Ministerium scheinbar nicht einmal durchliest, was auf dessen Homepage veröffentlich wird“.
Auch die FDP-Abgeordnete Bettina Stark-Watzinger übt scharfe Kritik an dem Papier: „Die Forderung, die Presse- und Meinungsfreiheit einzuschränken, ist ein No-Go“, so die Parlamentarische Geschäftsführerin der Liberalen zu Capital. „Eine angeordnete wohlwollende Hofberichterstattung ist mit demokratischen Werten unvereinbar. Ich kann den Mitgliedern des Beirats Junge Digitale Wirtschaft nur raten, sich vollumfänglichen von dieser nicht verfassungskonformen Idee zu distanzieren, um weiterhin ernst genommen zu werden.“
Aus der SPD meldete sich die Berliner Bundestagsabgeordnete Cansel Kiziltepe gegenüber Capital zu Wort: „Wirtschaftsminister Altmaier sollte seine Expertengremien grundsätzlich auf den Prüfstand stellen“, fordert Kiziltepe. „Das ist nicht der erste Fehltritt. Das ist ein Angriff auf die Pressefreiheit.“ Es sei absurd, „zum Schutz aufstrebender Börsensterne die Presse disziplinieren zu wollen“. Der Fall Wirecard habe gezeigt, „was alles möglich ist“.
Es bleiben Fragen offen
Die drei Hauptautoren des Papiers sind Amorelie-Gründerin Lea-Sophie Cramer, der Chef der teilstaatlichen High-Tech-Gründerfonds Alexander von Frankenberg sowie der Investor und Internetunternehmer Christoph Gerlinger. Zwei von ihnen ruderten am Dienstag bei Linkedin wieder zurück. „Das nicht abgestimmte Papier vertritt Einzelpositionen und Formulierungen, die in keinster Weise meine eigenen bzw. die Positionen des Beirats Junge Digitale Wirtschaft reflektieren“, schrieb Cramer. In der Sache seien „Einzelne in einer Form über das Ziel hinausgeschossen, die inakzeptabel ist.“ Mitautor Frankenberg schrieb bei Linkedin , die Einschränkung der Pressefreiheit sei „überhaupt keine gute Idee“ – es sei „eine alte Version gewesen“, die da veröffentlicht worden sei. „Wir reichen die aktuelle Version nach.“ Der dritte Autor, Christoph Gerlinger, übernahm am frühen Dienstagnachmittag laut Handelsblatt schließlich die Verantwortung dafür, „dass eine unpassende und missverständliche Formulierung“ in das veröffentlichte Papier gelangt sei. Er habe Minister Altmaier seinen Rücktritt als Beiratsmitglied angeboten.
Die beiden Vorsitzenden des Beirats, Fintech-Gründerin Miriam Wohlfarth und Nebenan.de-Gründer Christian Vollmann, entschuldigten sich via Linkedin für das Papier: „Ohne Einschränkung bekennt der Beirat sich für die Pressefreiheit. Leider ist uns hier ein Fehler passiert und es wurde eine nicht finale Arbeitsversion veröffentlicht. Wir werden das Papier umgehend austauschen.“
Trotzdem bleiben Fragen offen: Wie konnten die abstrusen Forderungen überhaupt in das Arbeitspapier gelangen? Weshalb stand das Positionspapier monatelang unwidersprochen auf der Webseite des Ministeriums? Und warum sind die anderen Beiratsmitglieder nicht eingeschritten, obwohl das Papier doch in ihrem Namen erschien?
Bundeswirtschaftsminister Altmaier hat inzwischen via Twitter Aufklärung versprochen: „Wir werden umgehend die Verantwortlichkeiten klären und gegebenenfalls Konsequenzen ziehen“, schrieb er am Montagabend.

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Transparenzhinweis: Der Artikel wurde um den Rücktritt Gerlingers nach Veröffentlichung ergänzt