Guillaume Néry wuchs in Nizza auf und damit in bester Lage für seine große Passion, das Tauchen. Bereits mit 19 Jahren zog er mit dem damaligen Frankreichrekord von 82 Metern Tiefe gleich, und nur ein Jahr später stellte Néry mit 87 Metern eine neue Bestmarke im „Constant Weight Freediving“ auf. Als jüngster Apnoetaucher der Geschichte.
Seitdem stieß der heute 39-Jährige ohne Atemgerät in immer größere Meerestiefen vor. So wie 2008, als er mit 113 Metern zum vierten Mal einen Weltrekord brach. Dramatisch wurde es 2015: Bei einem Wettkampf sollte sich Néry 129 Meter abwärts wagen, die Organisatoren und Juroren hatten sich jedoch beim Setzen der Führungsleine geirrt – und der Franzose tauchte stattdessen 139 Meter hinab. Beim Auftauchen, wenige Meter von der Meeresoberfläche entfernt, wurde er ohnmächtig und erlitt ein Barotrauma der Lunge. Das Aus für das Turnier und seine Profikarriere. Vorläufig.
Heute unterrichtet Guillaume Néry angehende Taucher, dreht Filme über die Unterwasserwelt (zuletzt: „ One Breath Around the World “), engagiert sich für die Rettung der Ozeane und ist Markenbotschafter für die Uhrenschmiede Panerai . Deren Geschichte geht passenderweise auf italienische Marinetaucher zurück.
Capital: Herr Néry, wo tauchen Sie am liebsten ab?
GUILLAUME NÈRY: Das kommt darauf an, was ich vorhabe. Wenn ich mich der blauen Tiefe hingeben will, ohne Atemmaske und mit geschlossenen Augen, brauche ich eine vertraute Umgebung. Dafür bietet sich das Mittelmeer vor Nizza oder einer griechischen Insel an. Für genussvolle Tauchgänge, bei denen ich – sehend – mit der Natur in Kontakt treten und ihre Farbenpracht bewundern möchte, habe ich einen anderen Lieblingsort: Französisch-Polynesien, wo ich drei bis vier Monate pro Jahr verbringe. Das Meer rund um Tahiti und Moorea ist zum zweiten Zuhause geworden.
Was geht Ihnen durch den Kopf, ehe Sie sich von der Reling stürzen?
Also ich denke nicht an „nichts“, wie manche glauben. Vor diesem Sprung ins Ungewisse, der meine Leidenschaft ist, breiten sich Vorfreude und Glücksgefühle aus. Auch ein Quäntchen Angst ist in der Mischung. Sie schärft meine Sinne, darf Hinweise geben und ihre Sorgen loswerden. Die Furcht darf nur zu keinem Zeitpunkt die Kontrolle übernehmen.
Was hilft dabei?
Die Atmung, ganz natürlich und ruhig. Darauf konzentriere ich mich bereits an Bord, damit der Atemrhythmus seine beruhigende Kraft auf mich ausüben und Stoffwechsel sowie Hirnaktivität herunterregeln kann. Der Atem errichtet eine Art magischen Filter zwischen mir und der Welt, und erzeugt einen meditativen Zustand, den ich unter Wasser dringend brauche. Negative Gefühle oder gar Panik können lebensbedrohlich sein.
Sie unterrichten auch Anfänger, die mehr wollen als Schnorcheln im Hotelpool.
Ja, ich versuche auf so viele Arten wie möglich, mein Wissen mit anderen zu teilen. Zu diesem Zweck arbeite ich gerade an einer neuen Apnoe-Tauchschule, die Bluenery Academy heißen und sich auf normale Menschen wie Sie spezialisieren wird.
Ich bleibe beim Tagesticket fürs Aquarium.
Genau dieses Vorurteil möchte ich widerlegen: Die Unterwasserwelt sei zwar faszinierend, das Tauchen aber nur wenigen Mutigen vorbehalten. Meine Erfahrung zeigt, dass unser Verstand dabei die größte Hürde ist. Nicht unser Körper, der wunderbar die Luft anhalten kann und sich unter Wasser wohlfühlt. Der Mensch und das Meer besitzen eine natürliche Verbindung. Zu diesem Thema schreibe ich übrigens gerade ein Buch.
Wettkämpfe bestreiten Sie aktuell nicht mehr, oder?
Das stimmt zum Teil. Ich habe vor ein paar Jahren wieder mit dem Training begonnen und arbeite sehr hart daran, bald wieder antreten zu können. Interessanterweise spielt einem in unserem Sport das Alter in die Hände, weil man immer erfahrener wird und der Metabolismus sich verlangsamt. Natürlich gibt es irgendwann eine physische Grenze, aber die scheint mir noch in weiter Ferne zu liegen. Für das Jahr 2022 habe ich mir jedenfalls eine Menge vorgenommen. Auch um zu zeigen, was in einem Athleten über 40 noch so steckt.
Von Ihrem Unfall abgesehen, der Ihre Lunge verletzte, wann wurde es unter Wasser noch richtig brenzlig?
Ich habe den Ozean natürlich schon mit vielen Lebewesen geteilt, darunter diverse Haie. Man darf bloß nie vergessen, dass es sich um Wildtiere handelt – und daher alles was passieren könnte mitunter tatsächlich eintritt. Also mache ich keine Dummheiten und folge meiner Intuition, um kritische Situationen zu vermeiden. Allerdings: Bei einer Weltmeisterschaft in Okinawa 2010 verhedderte sich die Führungsleine mit einem verwaisten Fischernetz. Das erwischte mich damals völlig unvorbereitet, in 100 Metern Tiefe.
Haben Sie sich darin verstrickt?
Das hätte passieren und extrem gefährlich werden können. Glücklicherweise blieb ich ruhig, obwohl ich ohne Maske quasi blind war und keine Ahnung hatte, was sich so seltsam anfühlte. Statt stur weiter nach unten zu tauchen, um trotzdem meine Punkte einzusammeln, entschied ich mich zur Umkehr. Auf Unerwartetes besonnen zu reagieren, das ist ein lebensrettendes Mindset. Übrigens auch in der Pandemie ...
Wie empfindet man beim Tieftauchen die Zeit: als pfeilschnelles Speedboat oder gemütliches Tretboot?
Ich erlebe jede Sekunde ganz bewusst und in Echtzeit. Mein gesamtes Sein ist auf das Tauchen ausgerichtet. Jede Pore, jede Synapse, wie bei einem Überlebenskampf. Mein Körper weiß, dass er von einem einzigen Atemzug zehren muss und passt sich daran an. Währenddessen nehme ich die Geschwindigkeit des Wassers wahr, das sich an meinem Gesicht reibt. Ich spüre den steigenden Druck, der meinen Lungen den Raum nimmt – und mein Gehirn verarbeitete alle diese Informationen und Eindrücke. Glasklar und sachlich.
In einer zunehmend digitalen (Sport-)Welt: Wie nützlich ist da ein archaisches Messinstrument wie die Armbanduhr?
Bei tiefen Tauchgängen ohne Maske öffne ich meine Augen zunächst gar nicht. Und dann nur sehr, sehr langsam, weil ich ja keine Maske trage. Irgendwelche Anzeigen zu lesen ist kaum möglich. Die Uhr erfüllt dennoch eine Funktion, sie ist das einzige Objekt aus meinem Alltag, das ich dort unten bei mir trage.
Sie meinen wie ein Talisman?
Genau. Die Uhr ist die Brücke zwischen meinen zwei Leben, dem Wasser- und dem Landmensch Guillaume Néry. Sie erinnert mich daran, dass ich im Ozean nur zu Gast bin. Wenn ich in geringerer Tiefe tauche, um mit Fischen und Säugetieren zu schwimmen, Seite an Seite, behält die Uhr den Überblick und zeigt an, wann der Sauerstoff knapp wird und ich zur Erholung auftauchen sollte.
Nun herrscht kein Mangel an Marken mit hochwertigen Taucheruhren. Warum haben Sie das Angebot von Panerai angenommen, Sie bei Ihrer Karriere und Ihren aufklärerischen Mission zu unterstützen?
Vor dieser Partnerschaft arbeitete ich viele Jahre mit einer anderen, weniger bekannten Uhrenmarke zusammen. Oft dachte ich aber: „Irgendwann möchte ich mit einer Manufaktur verbunden sein, die mich und meine Welt versteht, meine Werte teilt.“ Auf Panerai wurde ich dann durch den Ausnahme-Abenteurer Mike Horn aufmerksam, der seit vielen Jahren zu deren Botschaftern gehört und den ich sehr bewundere. Auch die Geschichte der Marke selbst, von der Ausstattung italienischer Marinetaucher bis zum Bemühungen um den Erhalt der Meere, passt wunderbar. Neben den robusten Uhren, natürlich.
Schaut man auf Ihre Bestmarke von 126 Metern im Jahr 2015 und den aktuellen Rekord bei 130 Metern, fragt man sich: Warum geht es so zäh voran?
Am Anfang einer Disziplin wie dem Apnoetauchen, das etwa 2002 allmählich auf den Radar der Öffentlichkeit geriet, sind die Fortschritte rascher. Mehr und mehr Athleten entdecken den Sport für sich, die Rekorde fallen in kurzen Abständen. Ich selbst legte beispielsweise 87 Meter vor, zwei Monate später schaffte ein anderer Taucher die 90 Meter, dann 92 Meter und kurz darauf gelangen mir 96 Meter. Danach sind die „low hanging fruits“ abgeerntet und es braucht immer größere Anstrengungen, Disziplin und Konzentration, um voranzukommen. Der Rekord von 124, den ich 2015 um zwei Meter unterbot, hatte rund fünf Jahre Bestand, wenn ich mich recht erinnere.
Gibt es irgendwann auch körperliche Grenzen?
Ich glaube nicht an Limits, höchstens an temporäre Meilensteine. Wir können in deutlich größere Tiefen vordringen, es wird nur länger dauern. Als ich meinen Unfall hatte, war ich bereits bei 129 Metern angelangt und hätte sicher noch weitere geschafft. Da geht definitiv noch was!
Bringt man vom Meeresgrund eigentlich Souvenirs mit? Natürlich ökologisch vertretbare, keine vom Riff gebrochenen Korallenstücke.
Vor ein paar Jahren tauchte ich in der Bucht von Nizza zum Training so um die 80 Meter hinab. Keine große Sache, ich ließ mir Zeit. Unten angekommen vergrub ich aus Gewohnheit eine Hand im Sand. Dabei stießen meine Finger auf einen mysteriösen Gegenstand. Ich griff blind danach und machte mich an den Rückweg. Oben angekommen sah ich ein Stück eines Metalltellers, der von einem Wrack stammen musste. Aus dem Training war kurzerhand eine kleine archäologische Expedition geworden.
Sie geben Interviews und halten Vorträge zum Tauchen, zu Umwelt- und Motivationsthemen. Was haben Sie beim Free Diving über Leben und Business gelernt?
Beispielsweise, dass man sich an Bedingungen außerhalb der eigenen Kontrolle anpassen sollte. Statt innerlich gegen die Dunkelheit, den Druck und die Kälte des Wassers anzukämpfen, akzeptiere ich die Situation und ihre Regeln. Alles andere ist Verschwendung von Energie, die ich besser auf das verwende, was ich verändern kann.
Ein weiser Rat.
Geduld ist eine weitere wichtige Fähigkeit, die mich mein Sport gelehrt hat. Auf dem Weg zur Oberfläche erwacht der Körper aus der Trance und besinnt sich auf seinen Urinstinkt: zu atmen. Das ist ebenso unmöglich wie ein beschleunigtes Aufsteigen und macht diese Phase zur größten Herausforderung beim Apnoetauchen. Ich muss besonders präsent bleiben, um kein unnötiges Risiko einzugehen, nur das Hier und Jetzt zählt. Wie in der Pandemie, die wir alle hinter uns lassen wollen. Das Timing gibt jedoch das Virus vor, weshalb wir uns weniger in Erwartungen, Plänen und Prognosen verlieren sollten.
Was hat Sie das Tauchen Ihnen noch beigebracht?
Sich dem ständigen Drang zur sofortigen Belohnung zu entziehen, der in unserer Gesellschaft vorherrscht. Das Apnoetauchen ist eine neue Erfahrung, auf die Körper und Geist behutsam und methodisch vorbereitet werden wollen. Das bedeutet, auch in wenigen Zentimetern, die man tiefer getaucht ist, etwas Positives zu sehen. Und zu akzeptieren, dass es im Leben nicht für alles eine Abkürzung gibt. Für diese Fähigkeit bin ich sehr dankbar. Jedes Projekt, das wirklich bedeutsam ist und eine große (Aus-)Wirkung hat, braucht seine Zeit.