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Kolumne Mitarbeiterbefragung - der Antidemokrat in mir

Dreimal Si: Katalanische Nationalisten streben die Unabhängigkeit von Spanien an
Dreimal Si: Katalanische Nationalisten streben die Unabhängigkeit von Spanien an
© Getty Images
Lassen sich komplexe Fragen auf ein simples Ja oder Nein reduzieren? Lars Vollmer argumentiert, dass Mitbestimmung an ihre Grenzen stößt - beim Referendum in Katalonien und auch bei schwierigen Unternehmensfragen.

Meine Wahlheimat Barcelona hat mich kürzlich mit einem interessanten Gedanken beschenkt: Da schlendere ich am katalanischen Nationalfeiertag durch die Straßen und von jedem zweiten Balkon wehen mir Flaggen entgegen. „Sí“ steht da drauf. Sí, Sí, Sí aus allen Richtungen. Sí von Balkonen, Sí von Dächern, Sí von Fenstersimsen. Denn Katalonien schürt, wie Sie wissen, die Werbetrommel für das nahende Referendum am 1. Oktober: Sí heißt Ja zur Abspaltung von Spanien.

Ein einziges Wort steht für einen womöglich immensen politischen und gesellschaftlichen Umbruch. Sí. Was wirklich passiert, würde Katalonien mehrheitlich für die Trennung von der zentralspanischen Regierung stimmen, kann mit großer Sicherheit kaum einer meiner Nachbarn einschätzen, ich ebenso wenig. Würde der Landstrich aus dem Euroraum langfristig verbannt? Würde das gefühlte „Nationalheer“ Kataloniens, der FC Barcelona, aus der spanischen Liga fliegen und mit ihm gleich der Nationalstolz der Region verpuffen?

Ich weiß es nicht. Und ebenso wenig wird es die Mehrheit der Katalanen wissen, wenn sie Sí oder No stimmt, ohne die Thematik in allen ihren Facetten auf dem Schirm zu haben. Denn die Demokratie schlägt ihren Vasallen hier ein Schnippchen: Sie trivialisiert eine hochkomplexe Frage auf ein einfaches Kreuz bei Sí oder No.

Wenn Sie mir im Hinblick auf die katalanischen Unabhängigkeitsliebhaber zustimmen, dann frage ich mich nun: Warum also hat noch niemand die Gefahr des zurzeit hochgejubelten Konzepts der Demokratie in Unternehmen erkannt?

Ein Fachmann für tausend Fragen

Denn die Sí-Flaggen sind seit geraumer Zeit zumindest metaphorisch auch in manchen europäischen Unternehmen angekommen. „Demokratisierung“ nennt man das dort (ob der Begriff glücklich gewählt ist, bezweifele ich inzwischen arg). Nun ist auch die Frage, ob Unternehmen sich demokratisieren sollten, eine hochkomplexe und ich habe nicht vor, sie in Bausch und Bogen abzuwerten. Doch zumindest den unreflektierten Wunsch nach Demokratisierung, nach der Mitbestimmung der Vielen, finde ich im Unternehmen gefährlich.

Denn wie beim klassischen Plebiszit wirft eine Befragung unter sämtlichen Mitarbeitern das Problem auf, dass jeder Einzelne ein Fachmann für tausend Detailfragen sein müsste, um die letztlich gestellte – und erheblich simplifizierte – Frage kompetent und qualifiziert beantworten zu können.

Lassen Sie mich das an einem Beispiel deutlich machen: Nehmen wir an, in Ihrem Unternehmen stellt sich die Frage, ob Sie das rote oder das grüne neue Produkt auf dem Markt platzieren sollen. Oder beide. Oder gar keins. Also starten Sie eine Mitarbeiterbefragung – vier Möglichkeiten, ganz simpel. Zu simpel! Denn die unterschiedlichen Produkte bedeuten unterschiedlichste Kosten, sie haben sicher Einfluss auf die Umsätze mit den bestehenden Produkten, das Image bei den Kunden könnte sich ändern. Auch wenn Sie nichts Neues in den Markt bringen, dürfte sich manches verändern – was machen eigentlich die Wettbewerber? Schön und gut. Nun nennen Sie mir aber bitte einen einzigen Mitarbeiter, der diese und alle weiteren Faktoren des Markteintritts absehen und einschätzen könnte! Sie überlegen noch? Das dachte ich mir. Ihre Mitarbeiter mit Rot-Grün-Schwäche vermutlich auch.

An der emotionalen Wurzel der Basisdemokratie

Komplexe Unternehmensfragen zu simplifizieren ist mir ein Dorn im Auge. Doch es wird nötig, wenn Sie sich auf die Fahnen schreiben, derartige Entscheidungen basisdemokratisch zu fällen.

Ihre Mitarbeiter werden dabei immer auf einer emotionalen Grundlage entscheiden, denn sie können gar nicht Fachmänner und Fachfrauen auf allen Gebieten sein, die ihre Entscheidung tangiert. Wirtschaftliche, soziale, juristische und kulturelle Auswirkungen abzuschätzen, ist auch nicht der Job jedes Einzelnen. Kann nicht der Job jedes Mitarbeiters sein. Warum ihre Belegschaft also durch demokratische Heuchelei zu der Überzeugung führen?

Ich behaupte nicht, dass Organisationen ohne Machtautoritäten zum Scheitern verdammt wären – ganz im Gegenteil. Doch komplexe Fragestellungen können Unternehmen nicht mit einfachen Fragen bewältigen. So hat eine demokratische Atmosphäre zwar auch positive Auswirkungen – mehr Mitarbeiter beschäftigen sich mit unternehmerischen Fragen, mehr Leute bringen sich konstruktiv ein, die gemeinsame Willensbildung wird beflügelt – aber wenn Sie schon Fans des demokratischen Referendums sind, erlaube ich mir, Ihnen eine andere Abstimmung ans Herz zu legen.

Demokratie der Könner

Denn das Gegenteil von Demokratie ist hier keineswegs das alteingesessene Patriarchat oder die Diktatur. Das ist den modernen Märkten ebenso ausgeliefert. Aber anstatt den Ideen und „Lösungen“ zu folgen, die die Mehrheit im Unternehmen gut findet, könnten Sie sich auf diejenigen verlassen, die kompetente Entscheidungen treffen: Ihre Könner.

Ja, das ist anstrengend. Denn kein Unternehmen hat in seinen Reihen universelle Genies. Könner sind jeweils Profis für spezifische Fragestellungen und Probleme, mit denen sie sich besonders auskennen oder zu deren Lösung sie einen kreativen Einfall haben. Ein spezifisches Marketingproblem löst also nicht unbedingt der Marketingchef am besten. Ideen haben schließlich Menschen, nicht Stelleninhaber.

Unternehmen, die von der demokratischen Schwarmintelligenz hin zu einem oder mehreren Könnern denken, gelangen aus meiner Erfahrung nicht nur schneller zu intelligenten Lösungen für konkrete Probleme. Sie genießen außerdem den Vorteil, dass ihr Team aus Könnern seine Entscheidung am Markt orientieren kann, statt internen Erwartungshaltungen und Wahlkämpfen zu erliegen.

Deshalb werde ich immer eher nach Könnern suchen, anstatt möglichst viele Menschen in komplexe Fragestellungen miteinbeziehen zu wollen. Vielleicht wollen Sie es mir nachtun. Und Ihre Könner können Sie dann auch gerne per Referendum bestimmen: Liebe Mitarbeiter, wen sollen wir befragen, um die kompetenteste Antwort auf diese oder jene konkrete Frage zu erhalten?

Lars Vollmer
Lars Vollmer
© larsvollmer.com

Lars Vollmer ist Unternehmer, Vortragsredner und Autor. Weitere Beiträge von Lars Vollmer: Schluss mit Bullshit-Bingo, Neues Jahr, neues Glück, Management von vorgestern, Oje, Oje VW und Das Tesla-Experiment

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