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Interview "Die klassische Management-Hierarchie hat ausgedient"

Der Amerikaner Brian Robertson hat mit der Entwicklung seiner Organisations-Philosophie Holacracy für viel Aufsehen in den USA und andernorts gesorgt.
Der Amerikaner Brian Robertson hat mit der Entwicklung seiner Organisations-Philosophie Holacracy für viel Aufsehen in den USA und andernorts gesorgt.
Brian Robertson hat mit seinem Holacracy-Konzept die New Work-Bewegung beeinflusst. Capital hat mit ihm über den Wandel des Managements gesprochen, hin zu weniger Hierarchie und zu mehr Eigenverantwortung der Mitarbeiter.

Herr Robertson, der von Ihnen geprägte Begriff Holacracy gehört mittlerweile zum Standardrepertoire der New Work-Bewegung. Ihr gleichnamiges Buch ist für viele moderne Manager Pflichtlektüre. Erklären Sie doch kurz was sich hinter dem Begriff verbirgt.

Holacracy ist eine neuartige Struktur für Unternehmen, bei der die klassische Top-Down-Management-Hierarchie ersetzt wird durch alternative Prozesse. Ich würde es Management ohne Manager nennen.

Also einfacher ausgedrückt: Weniger Hierarchie, mehr Mitbestimmung...

Ja, es ersetzt das Top-Down-Management durch eine Reihe von Governance-Prozessen. Und lädt alle ein, sich an der Art von Arbeit zu beteiligen, die wir typischerweise nur dem Manager oder Chef zuschreiben.

Und das ist in der Praxis wirklich machbar?

Wir haben mittlerweile mehr als tausend Unternehmen auf der ganzen Welt, die das praktizieren. Es ist eine Realität. Es funktioniert. Natürlich gibt es viele Herausforderungen beim Übergang von der traditionellen Managementhierarchie. Das ist eine große Veränderung. Aber wenn diese Transformation erst einmal vollzogen ist, dann ist die Struktur sehr stabil.

Sie haben ja interessanterweise nicht nur ein Buch dazu geschrieben, sondern Sie testen das Konzept auch an Ihrem eigenen Unternehmen...

Ja, das ist ein wichtiger Punkt. Manchmal wird mir vorgeworfen, dass das ja eine schöne Theorie ist, aber eben Theorie. Doch tatsächlich bin ich in erster Linie Praktiker und Unternehmer. Ich hatte ein Software-Unternehmen gegründet und wollte einen besseren Weg finden, dieses Unternehmen zu führen. Also experimentierte ich als CEO mit meiner eigenen Firma. Ich hatte zuvor so viele Arbeitsumgebungen erlebt, wo man als Angestellter spürt, dass etwas besser gemacht werden könnte - aber es keine Möglichkeit gab, sich einzubringen.

In welcher Art von Firmen haben Sie diese Erfahrungen gemacht?

Ich war eine Weile in einem Luft- und Raumfahrtunternehmen, ein typischer amerikanischer Mittelständler. Eigentlich mit einer recht guten Unternehmenskultur. Aber ich konnte meine Leidenschaft und mein Talent trotzdem nicht richtig einsetzen. Es gab so viel Bürokratie, so viel Politik. All das was in einem typischen Unternehmen eben im Weg steht.

Gab es da den einen Schlüsselmoment, der Auslöser für alles Spätere war?

Ja, den gab es tatsächlich. Es war in einem Meeting, wo beide politischen Fraktionen des Unternehmens sich gegenüber saßen. Ich saß dort mit meinem Chef in der einen Fraktion. Wir hatten vorher nicht vorbereitet, was wir sagen würden. Und plötzlich gerieten wir beide untereinander in eine Meinungsverschiedenheit. Die andere Seite wusste überhaupt nicht, wie sie damit umgehen sollte. Sie war gewohnt einfach immer die gegenteilige Haltung zu uns einzunehmen. Politik eben.

Eine typische Dynamik, die vermutlich viele aus ihrem Arbeitsalltag kennen...

Genau. Doch der Fakt, dass mein Chef und ich nicht einer Meinung waren, brach die gesamte politische Atmosphäre auf. Wir hatten anschließend das produktivste Meeting überhaupt! Denn wir redeten endlich einmal über die echten Themen. Es war als hätten bis dahin unbewusst die ganze Zeit dieses Politik-Theater gespielt. In diesem Moment hat es Klick bei mir gemacht.

Und hatten Sie dann direkt daran gedacht einen neuen Ansatz zu entwickeln, ein Buch zu schreiben?

Nein, ich habe erst einmal einfach gemacht. Indem ich selber gründete - bevor nach vielen Experimenten dann viel später das Konzept Holacracy daraus entstand. Zu Anfang wäre ich nie auf die Idee gekommen, dass irgendeine andere Firma das auch so machen wollen würde.

Und wie wurde dann daraus mehr?

Einige Freunde von mir, selber Gründer und CEOs, begannen sich dafür zu interessieren und neugierig zu werden, was ich da mache. Einer fragte mich schließlich, ob ich ihm helfen könnte, das auch bei ihm in der Firma zu implementieren. Und von da aus nahm es seinen Lauf und verbreitete sich immer weiter. Das Buch kam allerdings erst viel später, das war ursprünglich gar nicht meine Intention.

Sondern?

Ursprünglich ging es mir einfach darum, was in meiner eigenen Firma funktioniert und was nicht. Und es stellte sich erst mit der Zeit heraus, dass das ein recht genereller Ansatz ist, der auch woanders funktioniert. Ganz ehrlich, ich glaube die allermeisten Firmen leiden heutzutage an Problemen mit althergebrachten Management-Hierarchien.

Diese Hierarchien haben lange gut funktioniert....

Ja, im letzten Jahrhundert. Wenn man sich anschaut, wie die Welt war, noch vor ein oder zwei Generationen. Wenn Sie Mitte des letzten Jahrhunderts ein Unternehmen leiteten, war die Komplexität völlig anders als heute. Es war so viel einfacher. Das Tempo des Wandels war langsamer... Stellen Sie sich vor, mit wie vielen Nachrichten Sie an einem Tag im Jahr 1950 zu tun hatten.

Keine Frage, es gibt heute deutlich mehr Unsicherheit, mehr Volatilität...

Und da sind diese Strukturen eben nicht mehr der effektivste Weg, ein Unternehmen zu führen. Die Einführung des Internets war der Sargnagel für die alten Management-Systeme. Die klassische Management-Hierarchie hat ausgedient.

Wodurch zeigt sich denn konkret, dass Ihr Ansatz besser ist?

Nun es gibt wie gesagt mittlerweile eine Vielzahl von Firmen, die diesen Ansatz verfolgen. Damit haben wir Fälle, über die man Daten sammeln kann. Die Harvard Business School hat mittlerweile zwei Studien dazu durchgeführt und Daten erhoben. Und was man da ablesen kann, ist zum Beispiel, dass unser Ansatz es leichter macht, Veränderungen anzuschieben. Und einen Rahmen zu schaffen, in dem Leute ihre Arbeit wirklich erledigen.

Machen Sie das bitte noch konkreter.

Ein Beispiel: Eine Firma hat gemessen, wie viele Meeting-Minuten es im Schnitt braucht, um ein klares Ergebnis oder eine klare Entscheidung zu erzielen. Und es hat sich gezeigt, dass die Zahl der Minuten um über 90 Prozent reduziert wurde seit Einführung des Systems.

Interessant. Man könnte ja meinen, dass die Beseitigung von Hierarchien eher zu längeren, zäheren Meetings führt, zu Chaos...

Das ist eines der großen Missverständnisse rund um Holacracy. Die Leute denken oft, wenn man Hierarchie beseitigt, heißt das, dass Struktur komplett verloren geht. Das Gegenteil ist der Fall. Unternehmen, die Holacracy einführen, haben mehr Struktur nicht weniger als in einer klassischen Managementhierarchie. Es ist nur eine andere Struktur.

Und wie genau sieht diese Struktur aus?

Die Struktur ist hier das Ergebnis des Lernprozesses eines Teams. Mit der Grundfrage, wie wir zusammenarbeiten müssen, um maximale Effektivität zu erreichen. Anstatt den Chef oder die Personalabteilung die Struktur definieren zu lassen, haben Sie ein Team, wo alle beteiligt sind, um zu klären, was wir eigentlich voneinander erwarten. Wer muss welche Entscheidungen treffen? Das Endergebnis ist: mehr Struktur.

Klingt aber schon ein wenig nach langen Entscheidungsschleifen. Weil es niemand gibt, der sagt: Das wird jetzt so gemacht und basta!

Auch das ist ein gängiges Missverständnis zu Holacracy. Oft denken die Leute, dass hier alle Entscheidungen durch eine Art Gruppenprozess getroffen werden müssen, durch Konsens, in vielen Meetings. Mit Holacracy haben Sie aber tatsächlich im Gegenteil mehr autokratische Entscheidungsfindungen als in der klassischen Management-Hierarchie.

Das müssen Sie erklären.

Weil es einen Prozess gibt, der nicht auf Gruppenentscheidungen ausgerichtet ist. Sondern es ist stattdessen klar, wer welche Entscheidung trifft und was erwartet wird. Wenn das geklärt ist, brauchst du kein Meeting mehr. Du brauchst nur eine Person, die ihre klar definierte Rolle hat und die Entscheidungen dafür autonom trifft.

Also jeder Einzelne wird zum selbstverantwortlichen Unternehmer für seinen Bereich...

Es ist wie in der Gesellschaft, in der ich Entscheidungen für mein Haus und Eigentum treffe und mein Nachbar Entscheidungen für seines. Wenn ich mein Haus renovieren möchte, muss ich kein großes Treffen der Nachbarschaft einberufen.

Dabei wird dann allerdings auch jedem Einzelnen mehr Eigenverantwortung abverlangt.

Das stimmt. Und es verlangt erst einmal das schwierigste für uns alle ab: Umlernen. Man muss alte Gewohnheiten durch neue ersetzen.

Das klingt in der Transformationsphase nach einem herausfordernden Prozess. Wo fängt man da an?

Es ist ein mehrstufiger Prozess mit vielen verschiedenen Phasen. Zunächst fangen wir handfest und simpel an und versuchen einfach die Entscheidungsfindung in Meetings zu verändern. Dann geht es viel um klare Definition von Rollen. Um die Einstellung zu Macht, den Blick auf den Chef, auf Autorität allgemein. Und dann fängt man an, das Stück für Stück raus aus den Meetings in den Arbeitsalltag auszuweiten und zu übertragen.

Und was sind da die typischen Widerstände, denen man begegnet?

Naja, sagen wir mal so: Es ist einfach, sich in einer Management-Hierarchie zu verstecken. Es ist für manche unbequem, wahre Autonomie zu leben.

Würden Sie denn sagen, dass jeder für diese Arbeitsform bereit ist?

Meine Antwort lautet: Nein. Die meisten sind nicht bereit. Aber wenn wir warten bis sie bereit sind, wird es nie Veränderung geben. Also muss man Stück für Stück damit anfangen, sie zu befähigen.

Das klingt nach Arbeit auf individueller Ebene, bei jedem Einzelnen...

Es geht darum, den Leuten Stück für Stück Vertrauen zu geben. Vertrauen in eine Welt, die Selbstverantwortung und unternehmerisches Talent verlangt. Und die Leute bei diesem Lernprozess zu unterstützen.

Was machen Sie mit Leuten, die es nunmal bequemer finden, Anweisungen zu bekommen statt die Initiative zu ergreifen?

Ich sehe das so: Es muss nicht jeder in der Lage sein, das zu tun, was der frühere CEO getan hätte. Es muss nicht jeder ein Unternehmer sein. Doch auch als Pförtner kann man lernen, selber zu schauen, was es braucht es um den Job sinnvoll zu machen - statt auf Anweisungen zu warten. Ich glaube für diese Herausforderung ist heutzutage im Kern jeder bereit.

Und ist denn jedes Unternehmen bereit für Holokratie?

Nein.

Welche sind es nicht?

Es ist eine Kosten-Nutzen-Abwägung. Wenn eine Firma eher kurzfristige Ziele verfolgt, ist es den Aufwand nicht wert. Und vor allem braucht es eine ehrliche Einschätzung, ob die Unternehmensführung selbst, die Leute ganz oben an der Spitze wirklich bereit dazu sind.

Einige wollen ihre Chefrolle vermutlich letztlich doch nicht ganz aufgeben?

Der ganz oben muss wirklich bereit sein, es auch selber vorzuleben. Damit steht und fällt alles.

Sie sind mittlerweile sehr erfolgreich mit der Verbreitung Ihrer Theorie. Aber wie steht es denn wirtschaftlich um Ihre eigene Firma, die mit dem System läuft?

Meiner Firma geht es gut. Aber vor allem geht es auch vielen anderen Firmen gut, die das System eingeführt haben.

Gibt es Dinge, wo Sie komplett falsch lagen, zum Zeitpunkt, wo sie das Buch geschrieben haben? Und mittlerweile komplett anders sehen?

Oh ja, wir haben viel gelernt, wie man die Einführung von Holacracy besser unterstützen kann. Leider habe ich nicht viel darüber in dem Buch geschrieben. Das müsste ich überarbeiten. Wir haben unsere Methoden im Laufe der Jahre immer wieder verändert. Holacracy ist ein Open-Source-System. Es gibt eine Reihe von Regeln für das Spiel. Aber es wird sich immer weiter entwickeln und angepasst werden durch das Feedback der Nutzer und der Community.

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