Der Industriegasehersteller Linde macht Schluss mit Frankfurt: Der Verwaltungsrat will den Aktionärinnen und Aktionären den Rückzug von der Deutschen Börse vorschlagen. Die deutsche Traditionsaktie soll künftig nur noch an der New Yorker Wall Street gelistet sein.
Die Trennung kommt nicht wirklich überraschend, und in Frankfurt kann sie Linde kaum jemand verübeln: Der deutsch-amerikanische Konzern hat seine Wurzeln zwar in Wiesbaden, fusionierte jedoch 2018 mit dem US-Konkurrenten Praxair zu Linde plc. Die neu gegründete Firma hat seither ihren Sitz in Irland und ist damit kein deutsches Unternehmen mehr.
Schon jetzt wird mit 62 Prozent der Großteil der Linde-Aktien in New York gehandelt. Über das Xetra-System der Deutschen Börse hingegen werden nur noch 5,3 Prozent der Linde-Trades abgewickelt. Bei den anderen Handelsplätzen ist es noch weniger: Bei Tradegate aus Berlin werden 0,4 Prozent des Umsatzes getätigt, bei Quotrix (Broker ICF) 0,05 Prozent, in Stuttgart 0,04 und auf dem Börsenparkett in Frankfurt 0,02 Prozent. Gänzlich vernachlässigbar sind die Umsätze der Regionalbörsen in Berlin, Düsseldorf, Hamburg, Hannover und München.
Die Aufregung um das Ende des Listings der Linde-Aktie in Frankfurt ist aus Marktsicht also ein Sturm im Wasserglas. Es war eine Trennung mit Ansage und zeigt einmal mehr, dass der Dax für große Unternehmen und Investoren kaum noch eine Rolle spielt und seit Jahren überschätzt wird. Wer international mitmischen will, geht nicht nach Frankfurt. Bestes Beispiel dafür ist der Impfstoffhersteller Biontech aus Mainz, der sich erst gar nicht im benachbarten Frankfurt listen ließ, sondern sein Börsendebüt gleich in New York gab.
Linde war zu gut für den Dax
Für Linde hat die doppelte Börsennotierung in Deutschland und den USA Nachteile: Als wertvollster Konzern im Dax mit einer Marktkapitalisierung von 145 Mrd. Euro ist das Unternehmen schlicht zu erfolgreich für den Index. „Die Struktur der doppelten Börsennotierung hat uns zwar von Anfang an gute Dienste geleistet, aber sie hat unsere Aktienbewertung durch die europäischen Beschränkungen und die zunehmende Komplexität eingeschränkt“, lässt sich Linde-Chef Sanjiv Lamba zitieren.
Worauf Lamba mit den Beschränkungen anspielt, ist die sogenannte Kappungsgrenze, die es nur bei europäischen Indizes gibt. Sie liegt bei zehn Prozent und ist ein Instrument der Deutschen Börse, um das Gewicht eines einzelnen Konzerns im Index zu begrenzen. Linde reißt diese Kappungsgrenze regelmäßig. Die Folge ist, dass Indexfonds, die den Dax nachbilden (ETFs), regelmäßig Linde-Aktien abstoßen müssen.
Der gesamte Dax ist derzeit nur noch 1,35 Billionen Euro wert. Vor dem Ukrainekrieg und der Energiekrise, die den börsennotierten Unternehmen schwer zu schaffen machen, kam er auf eine Marktkapitalisierung von rund 1,87 Billionen Euro. Das klingt nach viel, ist im internationalen Vergleich aber so gut wie nichts. Die drei großen Tech-Konzerne Microsoft, Apple und Alphabet zum Beispiel wuchsen 2021 zusammen auf einen Börsenwert von 2,2 Billionen Euro.
Mit dem Weggang von Linde wird der Dax noch mehr in die Bedeutungslosigkeit rutschen – und rund zehn Prozent an Wert verlieren. Nach Linde kommen bisher SAP (8 Prozent), Siemens (7,1 Prozent) und Allianz (6,3 Prozent). Laut der jüngsten Index-Rangliste der Börse vom 5. Oktober wäre der Kasseler Düngemittel- und Salzkonzern K+S der erste Aufstiegskandidat in den 40 Werte umfassenden Dax. Doch mit einer Marktkapitalisierung von 4,2 Mrd. Euro könnte er die Lücke, die Linde hinterlässt, niemals füllen.
Im Industrieländer-Index MSCI World, den Capital regelmäßig als Basis für eine global diversifizierte Aktienanlage empfiehlt, beträgt der Deutschland-Anteil heute 2,06 Prozent. Diese setzen sich neben den 40 Dax-Werten auch aus den 20 größten MDax-Titeln zusammen, gemeinsam bilden sie den MSCI Germany. Mit dem Dax-Ausstieg von Linde würde Deutschland im MSCI World wohl unter die 2-Prozent-Marke fallen – ziemlich peinlich für die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt. Selbst Australien schafft 2,2 Prozent.
Der Dax mogelt sich nach vorn
Ohnehin mogelt sich der Dax in internationalen Vergleichen nach vorne, seine Perfomance wirkt deshalb besser als sie tatsächlich ist. Das liegt daran, dass bei ihm Dividenden eingerechnet werden, also unterstellt wird, dass Anlegerinnen und Anleger die Ausschüttungen immer sofort wieder investieren und niemals verkonsumieren.
Der Dax kommt über die letzten 20 Jahre zwar auf eine jährliche Rendite von durchschnittlich 7 Prozent, beim US-Leitindex S&P 500 sind es 7,3 Prozent. Nur: Der S&P 500 hat das ausschließlich durch steigende Kurse geschafft, die Dividenden kommen noch oben drauf. Aktuell liegt die Dividendenrendite hier bei 2,2 Prozent. Die Dax-Rendite hängt hingegen stark an den Dividenden. Werden sie rausgerechnet, kommt der Index nur auf eine Rendite von vier Prozent über die vergangenen 20 Jahre.
Für Aktionärinnen und Aktionäre von Linde bedeutet das Delisting, dass sie neue Aktien ins Depot gebucht bekommen. Der Linde-Vorstand will eine neue Holdinggesellschaft gründen. Die Anteilseigner sollen dann Aktien dieser Holdinggesellschaft erhalten. Am Ende des Tauschs soll die neue Holding in Linde umbenannt werden.
Für den Dax könnte es immerhin einen kurzen positiven Effekt haben, wenn Linde tatsächlich ausscheidet: Denn dann müssten Indexfonds ihre Linde-Aktien verkaufen und gleichzeitig Aktien der verbleibenden Titel und der Aufsteigerin nachkaufen. Linde könnte also eine kleine Herbstrally bei Dax-Werten auslösen. Spätestens danach sollte aber der Zeitpunkt sein, an dem Anlegerinnen und Anleger mit Dax-Übergewichtung dem Index „Tschüss“ sagen und das Geld globaler anlegen.