Viele Menschen freuen sich in diesen Tagen auf die Sommerferien oder sind schon unterwegs. In den vergangenen beiden Jahren war der Sommer besonderer als ohnehin: Er war eine Phase der Erleichterung, des Lebens, des Wiedererlebens.
Nach langen Phasen des Lockdowns öffnete sich das Land wieder, öffneten Cafés, Schwimmbäder und Biergärten. Es war die Phase der Normalität, der Hoffnung. Im Sommer verdrängte man den Herbst und fürchtete den Lockdown-Winter.
Das ist in diesem Sommer nicht anders, Herbst und Winter stehen uns auch bevor, nur unter anderen Vorzeichen. In Millionen Häusern und Wohnungen schauen Menschen sorgenvoll auf ihre Gastherme oder die Ölheizung. Wie teuer wird warm? Wie lange bleibt‘s warm? Ganz neue Fragen, existentielle Fragen.
Unter jedem Dach ein Ach, heißt ein alter Spruch. Dieses Jahr ist das Ach die Energie.
Wir stehen vor einer möglichen Zäsur
Der Sommer allerdings steht auch manchen bevor. Nicht nur, weil ohne Boris Johnson die britische Politik wieder etwas fader wird. Da ist zum einen das Chaos an den Flughäfen und Bahnhöfen. Jeder hat inzwischen seine Ihr-Flug-wurde-gestrichen-Geschichte plus acht Stunden Warteschleife. Seit Wochen schon ist jede Dienstreise eine Odyssee im Luftraum, die Folge eines unfassbaren Missmanagements, einer Fehleinschätzung der Führung von Lufthansa & Co. Diese sollte mal in einer Case Study an Business Schools aufgenommen werden – wie man es nicht macht. Es gibt im Grunde nur noch eine Art, entspannt zu reisen und pünktlich anzukommen: nachts mit dem Auto.
Die eigentliche Schwere dieses Sommers aber hat einen anderen Grund. Wir stehen vor einer möglichen Zäsur – wenn ab dem 21. Juli kein Gas mehr durch Nord Stream 1 fließen wird, wird es für die deutsche Wirtschaft und unser Land ein Davor und ein düsteres Danach geben. Und selbst, wenn es doch weiter fließt, wird es nicht einfach. Ein Stopp wäre ein Einschnitt, der aus dem Powerhouse Europas ein No-Powerhouse macht. Mit allen Folgen für den deutschen Wohlstand und damit auch die Stärke des Kontinents.
Seit dem 24. Februar ist so viel passiert, dass man sich an manchen Tagen fragt, ob man alles genau verstanden und verarbeitet hat. Manchmal sehnt man sich fast an einen Tag zurück, an dem der größte Aufreger die bizarren Beschlüsse einer Corona-Ministerpräsidentenkonferenz waren.
10 Thesen
Ich möchte für Sie zur Mitte des Jahres einige Gedanken als Zwischenfazit festhalten – leider keine Sommerreiselektüre.
- Russland hat die erste Phase des Krieges mit dem umfassenden Angriff auf die gesamte Ukraine verloren, scheint aber den Krieg im Osten zu gewinnen – mit einer brutalen Materialschlacht und Dampfwalzenstrategie. Es ist ein Krieg mit einer historischen Zerstörungskraft, die schon Ende Mai bei 600 Mrd. Dollar lag.
- Russland hat seine Währung und die Inflation stabilisiert und strahlt nach außen eine gewisse Robustheit aus, was frustriert und nervös macht. Es wirkt, als ob Putin mit seinen Öl- und Gasvorkommen am längeren Hebel sitzt. Es dauert einfach quälend lang, bis die Sanktionen wirken, und da Moskau das Land auf eine Mischung zwischen Kriegswirtschaft und Re-Sowjetisierung einschwört, stellt sich die Frage nach dem Durchhaltevermögen und -willen Europas. Die Sanktionsfolgen sind kaum sichtbar, werden es auch kaum sein, außer man hört auf die kleinen Meldungen, dass Russland in den stillgelegten Werken wieder den „Wolga“ bauen will.
- „Der Krieg macht uns alle ärmer“ – diese Formel von Christian Lindner steht als dunkle Formel über allem, was als „Zeitenwende“ deklariert wurde. Deutschland kämpft nicht nur um ein paar Prozentpunkte Wachstum, sondern um den Kern seines Wirtschaftsmodells – für das die Russen die Energie liefern. Der Kanzler lässt seine Landsleute in dieser Phase rhetorisch verkümmern, der Wirtschaftsminister füllt sie.
- Die andere Formel „Frieren für den Frieden“ wiederum verklärt auf eine naive, fast romantische Art, was auf dem Spiel steht. Sie reduziert die Opferbereitschaft auf einen Handgriff am Thermostat. Dabei geht es beim Gas und unserer Energieversorgung um den Maschinenraum der Industrie. Im schlimmsten Fall erleben wir einen Einbruch, den man nicht über ein paar Wochen mit Corona-Hilfen überbrückt. Gas sollte die Brückentechnologie bis 2030 sein – und diese Brücke ist zusammengebrochen.
- Wir bereiten uns auf das Schlimmste vor, ohne vorbereitet zu sein. Die Unternehmen planen in Szenarien, was minus 25, minus 50 oder minus 100 Prozent bedeuten kann: Runterfahren, Abschalten, Verlagerung. Das sind Planspiele, die vor kurzem noch undenkbar erschienen. Ohne russisches Gas werden Öfen erlöschen, und viele werden nicht mehr angehen. Fließt das Gas wieder, wird es auch eng, weil Energie künftig zwei Eigenschaften hat, die Gift sind für die Konjunktur: Sie ist teuer und unsicher.
- „Wir erleben die größte Krise seit XY“ ist eine Feststellung, die in den vergangenen Jahren ein wenig zu oft getroffen werden musste. Jedes Jahr eine neue Jahrhundertaufgabe, Krisen überlagern sich zu Krisenklumpen. Die gute Nachricht ist: Das erste Halbjahr 2022 ist vorbei. Die Schlechte: Das zweite Halbjahr 2022 hat begonnen.
- Für die Industrie ist die Energieversorgung ein tägliches Managen am Abgrund, für die Politik ist sie die neue soziale Frage. Derzeit gestaltet sie die steigenden Energiekosten wie eine Fortführung der Corona-Hilfen: Heizkostenzuschuss, Energiepreispauschale, Tankrabatt, 9-Euro-Ticket. Was davon wirkt und hilft, werden wir in einigen Monaten wissen. Auf Dauer aber wird es schwierig, so zu tun, als zahle man hier Überbrückungsgeld I. Und dann Überbrückungsgeld II. Für 2022 ist das unvermeidlich, danach braucht es längerfristige Lösungen.
- Mit den Notenbanken verbindet man nicht mehr Allmacht, sondern Ohnmacht. Vor einigen Jahren galt noch der Satz von Mohamed El-Erian, die ultralockere Geldpolitik der Notenbanken sei „the only game in town“. Die Geldpolitik füllte die Lücke, die die Fiskalpolitik hinterlassen hatte. Nun ist sie selbst die Lücke. Aus dem Game wurde Shame. Notenbanken bekämpfen die Inflation, und sie tun es als Getriebene. Die US-Notenbank Fed ringt dabei mit den Folgen ihrer historischen Fehleinschätzung, die EZB antizipiert eine mögliche neue Eurokrise.
- Wird der Krieg in der Ukraine die neue Urkatastrophe des 21. Jahrhunderts? Ich habe diese Frage seit Monaten vielen Unternehmerinnen und Unternehmern gestellt. Es ist nicht so, dass ich oft ein „ja“ gehört habe. Ich habe nur zu selten ein Nein gehört.
- Was macht Hoffnung? Darüber könnte ich Dutzende Newsletter schreiben. Ein kleines Beispiel: Diese Woche hat das Start-up Climeworks angekündigt, dass es auf Island die nächste große Anlage errichten will, um CO2 aus der Luft zu waschen und auf ewig in das Vulkangestein zu pressen. Bis zu 36.000 Tonnen im Jahr! Der Name der Anlage: Mammoth. Klingt großartig. Ich habe vor einiger Zeit mit dem Co-Gründer Jan Wurzbacher gesprochen. Also: Hören Sie im Auto oder am Flughafen oder Bahnhof oder wo immer sie gerade sind, auch solche Storys. (Klicken Sie für Apple hier und für Android hier.)
Und hören Sie danach die Geschichte von Christian Schramm, dem Mann, der mit Gustavo Gusto den Markt für Tiefkühlpizzen knackte (klicken Sie hier). Oder von Nils Aldag und Sunfire, dem neuen Wasserstoff-Hidden-Champion aus Dresden.
Diese Welt, die Welt der Innovationen, der Schaffenskraft, des Gründergeistes, sie ist mitnichten verschwunden. Sie lebt, sie arbeitet, sie wächst. Es kostet derzeit nur Kraft, dorthin zu schauen und zu hoffen.