Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck hat vor den am kommenden Montag beginnenden Wartungsarbeiten an der Nord-Stream-1-Pipeline öffentlich an die kanadische Regierung appelliert, eine von den Sanktionen gegen Russland betroffene Turbine zum Betrieb der Anlage zurück nach Deutschland schicken zu lassen. Der Minister und Vizekanzler sagte in einem Bloomberg-Interview am Mittwochabend, die Rückgabe der zu Wartungsarbeiten in Kanada befindlichen Turbine würde Russlands Präsident Wladimir Putin eines Vorwands berauben, die Pipeline nach der Wartung womöglich nicht wieder in Betrieb zu nehmen. In einem solchen Fall hätte Deutschland Schwierigkeiten, seine Gasspeicher vor dem Winter zu füllen.
Die in Kanada von Siemens Energy gebaute Anlage war zur Reparatur nach Montreal geschickt worden, sitzt aber wegen der von Kanada mitgetragenen Sanktionen gegen die russische Öl- und Gasindustrie inzwischen dort fest.
„Ich bin der Erste, der für ein weiteres, starkes EU-Sanktionspaket kämpft, aber starke Sanktionen bedeutet, dass sie Russland und Putin mehr schaden müssen als unserer Wirtschaft“, sagte Habeck. „Deshalb bitte ich um Verständnis, dass wir Putin diese Turbinenausrede nehmen müssen.“
Turbine nach Deutschland liefern
Der Minister räumte ein, dass die kanadischen Sanktionen rechtlich bindend sind und schlug eine Lösung vor, die er als gangbaren Weg bezeichnete. „Wenn es sich um eine rechtliche Frage für Kanada handelt, möchte ich klarstellen, dass ich sie nicht auffordere, sie nach Russland zu liefern, sondern sie nach Deutschland zu bringen“, sagte Habeck.
Er äußerte sich zwei Tage nach einem Telefonat von Bundeskanzler Olaf Scholz mit Kanadas Premierminister Justin Trudeau über die europäische Energiesicherheit und eine Woche nach dem Besuch des Regierungschefs in Deutschland beim Gipfeltreffen der G7-Staats- und Regierungschefs in Elmau, bei dem es vor allem um die Folgen von Putins Krieg ging. Vertreter der kanadischen Regierung gaben auf die Bitte Deutschlands hin zunächst keine festen Zusagen.
„Wir werden nicht aufhören, dem Putin-Regime schwere Kosten aufzuerlegen, solange seine ungerechtfertigte Invasion andauert“, teilte Ian Cameron, ein Sprecher des kanadischen Ministers für natürliche Ressourcen per E-Mail mit. „Wir werden unsere europäischen Freunde und Verbündeten weiterhin unterstützen, indem wir uns für die Stabilisierung der Energiemärkte einsetzen und langfristige und nachhaltige Lösungen für die Energieversorgung entwickeln.“
Habeck zufolge könnte Putin das Turbinenproblem ausnutzen, um die Gasversorgung Deutschlands zu gefährden, obwohl die Pipeline weiterhin betrieben werden kann. Seiner Meinung nach verfügt der Betreiber der Pipeline, der staatliche russische Gasriese Gazprom, über eine weitere funktionierende Turbine, die in der Zwischenzeit genutzt werden könnte.
„Wir sollten nicht den Fehler machen, Putins Propaganda zu glauben“, sagte Habeck. Die Rückgabe der Teile vor der geplanten Abschaltung am 11. Juli würde Putin zumindest eines seiner möglichen Argumente für eine spätere Abschaltung der Pipeline nehmen. Die kanadische Regierung sollte nicht zu lange warten und eine Entscheidung vor Beginn der Wartungsphase treffen, sagte Habeck.
Gesetz im Eiltempo
Europa sieht sich mit der größten Energiekrise seit Jahrzehnten konfrontiert, da Hauptlieferant Russland als Vergeltung für die Sanktionen und die europäische Militärhilfe für die Ukraine Gaslieferungen an mehrere Länder eingestellt hat. Das Bundeskabinett hatte am Dienstag im Eiltempo ein Gesetz verabschiedet, um angeschlagene Energieunternehmen retten zu können. So sollen die Auswirkungen der Krise und der steigenden Energiekosten für die Verbraucher begrenzt werden. Die entsprechenden Gesetzesänderungen müssen bis Freitag noch von Bundestag und Bundesrat verabschiedet werden, bevor sie in Kraft treten können.

Kurz nach dem Ausfall der Siemens-Turbine im vergangenen Monat drosselte Gazprom den Durchfluss durch die Nord-Stream-Pipeline auf nur noch 40 Prozent der Kapazität. Es wird befürchtet, dass die Lieferungen nach den Wartungsarbeiten in der nächsten Woche nicht wieder vollständig aufgenommen werden.
Andere Turbinen befinden sich noch in Russland, Gazprom behauptet jedoch, dass nicht alle von ihnen betriebsbereit sind. Der Energieriese beruft sich auf Anordnungen der staatlichen Sicherheitsbehörde, keine Anlagen mehr zu verwenden, die zur turnusmäßigen Wartung anstehen.
Habeck zeigte Verständnis dafür, dass die Rücksendung der Turbine für Trudeaus Regierung politisch brisant sein könnte, und verwies auf die ukrainische Einwanderergemeinde in Kanada – die größte der Welt außerhalb Russlands. „Ich weiß, dass sie die Situation sorgfältig durchdenken, und ich habe volles Verständnis für die Situation, die sie abwägen müssen“, so Habeck, der seinerseits auf seine Amtspflichten verwies. „Es ist Teil meines Eides, den ich dem deutschen Volk gegeben habe, wenn ich das so sagen darf, dass wir die Versorgungssicherheit gewährleisten müssen.“
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