Tagtäglich sehen wir Bilder der gewaltigen Verwüstungen in der Ukraine, zerstörte Häuserblocks, Fabriken und Straßen. Schon jetzt werden die direkten physischen Schäden auf bis zu 100 Mrd. Dollar geschätzt. Die gesamten Schäden, also inklusive des Einbruchs der Wirtschaftsleistung, dürften laut Experten zwischen 500 und 600 Mrd. Dollar betragen. Warum aber sind diese Summen schon jetzt so gewaltig?
„Die russische Kriegsführung besteht darin, wie eine Dampfwalze zu versuchen, Gebiete zu erobern“, erklärt der Russland-Kenner Bernd Ziesemer im Podcast „Die Stunde Null“. „Und das geht einher mit der völligen Zerstörung.“ Deshalb sei dieser Krieg so teuer. „Man muss sich klar machen, dass schon nach hundert Tagen dieser Krieg der ökonomisch gesehen teuerste Krieg ist, den wir nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erlebt haben.“ Die Art der Kriegsführung, die Fabriken und Infrastruktur dem Erdboden gleich mache, habe in einem relativ entwickelten Land „verheerende ökonomischen Folgen“, so der „Capital“-Kolumnist und langjährige Chefredakteur des „Handelsblattes“.
Seit Beginn des Krieges gibt es Experten, die die Schäden ziemlich akribisch dokumentieren. Führend ist dabei das KSE Institute an der Kiew School of Economics, das unter anderem mit Hilfe von Drohnen arbeitet. Ein Mitarbeiter bezeichnet sein Team als „Buchhalter des Grauens“. Schon Ende März listete das Institut exakte Zahlen und Schäden von insgesamt 63 Mrd. Dollar auf. Es seien „4431 Wohngebäude, 92 Fabriken/Lagerhäuser, 378 Einrichtungen der Sekundar- und Hochschulbildung, 138 Gesundheitseinrichtungen, 12 Flughäfen, 7 Wärmekraftwerke/Wasserkraftwerke beschädigt, zerstört oder beschlagnahmt“ worden.
Mit Datum des 8. Juni hielt das KSE Institute einen Gesamtbetrag der direkten Schäden in Höhe von 103,9 Mrd. Dollar fest. Seit Beginn des Krieges seien mindestens „44,8 Millionen Quadratmeter Wohnraum, 256 Unternehmen, 656 medizinische Einrichtungen, 1177 Bildungseinrichtungen, 668 Kindergärten, 198 Lagerhäuser, 20 Einkaufszentren und 28 Öl-Depots beschädigt, zerstört oder beschlagnahmt“ worden.
„Solche exakten Schätzungen sind etwas Neues, das wir in diesem Krieg zum ersten Mal erleben“, sagte Ziesemer, der in den 1990ern-Jahren Korrespondent in Moskau war und die Kosten des Krieges für die aktuelle „Capital“-Ausgabe recherchiert hat. Die Auflistungen sind Teil des Projektes „Russia will pay“ („Russland wird zahlen“), um später mögliche Reparationsforderungen durchzusetzen.
Nach Schätzungen des ukrainischen Wirtschaftsministeriums und des KSE belaufen sich die kriegsbedingten wirtschaftlichen Verluste der Ukraine insgesamt auf 543 bis 600 Mrd. Dollar. In der Summe wurden indirekte Verluste einkalkuliert, darunter der Rückgang der Wirtschaftsleistung, fehlende Investitionen und die Abwanderung von Arbeitskräften.
Besonders der Krieg im Süden und Osten habe gewaltige Kosten, so Ziesemer. „Es geht um ein Gebiet, das dreimal so groß ist wie Nordrhein-Westfalen und auch von seiner Struktur dem Bundesland ähnelt.“ Man spreche beim Donbass auch vom „Ruhrgebiet der Ukraine“. Es gebe dort viele Fabriken, Stahlindustrie, Schwerindustrie, Maschinenbau. „Die russische Art der Kriegsführung ist darauf ausgerichtet, praktisch die gesamte Infrastruktur zu zerstören.“
Schon jetzt ist klar, dass die Ukraine nicht in der Lage sein wird, den Wiederaufbau alleine zu stemmen. Dafür bedürfe es einer „enormen Kraftanstrengung über viele Jahre“, sagt Ziesemer. „Schon jetzt müssen wir uns klar machen, dass wir die Ukraine nicht allein lassen können.“
Hören Sie in der neuen Folge von „Die Stunde Null“ weitere Zahlen zur den Kosten für Russland, Deutschland und der Weltwirtschaft. Außerdem gibt es ein Update zu den Einbrüchen am Aktienmarkt und der Sondersitzung der EZB
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Die neue Capital-Ausgabe mit den Recherchen von Bernd Ziesemer gibt es ab dem 23. Juni am Kiosk oder unter https://shop.capital.de/de_DE/einzelhefte/einzelausgaben