Die Corona-Pandemie und ihre gesellschaftlichen Folgen werden uns – trotz rascher Fortschritte bei der Entwicklung eines Impfstoffs – voraussichtlich noch eine ganze Weile begleiten. Nicht alle diese Folgen sind negativ. So haben die Kontaktbeschränkungen aufgrund von Covid-19 beispielsweise für einen Schub bei der Digitalisierung oder der Akzeptanz des Arbeitens von zu Hause gesorgt.
Auch im Gesellschaftsrecht hat die Pandemie deutlich sichtbare Spuren hinterlassen. Am bemerkenswertesten war hier der unvermittelte, nahezu vollständige Wechsel weg von Gesellschafter- oder Hauptversammlungen als reine Präsenzveranstaltungen und hin zu komplett virtuellen Versammlungen. Auch wenn der Gesetzgeber viele Grundlagen bereits seit Jahren gelegt hatte, waren Unternehmen in der Praxis bislang äußerst zurückhaltend in der Anwendung. Mit dem Gesetz zur Abmilderung der Folgen der Covid-19-Pandemie im Zivil-, Insolvenz- und Strafverfahrensrecht vom 27. März 2020 ist dies in der letzten Hauptversammlungssaison schlagartig anders geworden.
So machten alle Dax-Unternehmen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes noch nicht zu ihrer ordentlichen Hauptversammlung eingeladen hatten, unisono von der Möglichkeit einer virtuellen Versammlung Gebrauch. Neben dem Umstand, dass nur so dem dynamischen Infektionsgeschehen Rechnung getragen werden konnte, brachten die Erleichterungen des Gesetzes für die Unternehmen auch ganz handfeste Vorteile mit sich – angefangen von deutlich geringeren Kosten und stark reduziertem Organisationsaufwand bis hin zu gelockerten Anwesenheitspflichten für die Organmitglieder.
Auf der anderen Seite brachte die Neuerung in der Hauptversammlungssaison 2020 massive Einschränkungen der Aktionärsrechte mit sich: Die Einladungsfrist für Hauptversammlungen kann auf nur 21 Tage verkürzt werden, Aktionäre müssen ihre Fragen bis spätestens zwei Tage vor der Versammlung übersenden und der Gesellschaft steht es frei, Fragen zusammenzufassen oder Fragen unbeantwortet zu lassen. Eine sogenannte Zwei-Kanal-Kommunikation, also die Möglichkeit der Aktionäre, sich auch während der Hauptversammlung zu Wort zu melden oder Fragen zu stellen, muss nicht zwingend angeboten werden.
Schließlich sind die Anfechtungsmöglichkeiten bei technischen Problemen im Rahmen der virtuellen Durchführung extrem eingeschränkt. Auch wenn die Unternehmen nicht alle Vorzüge in der Praxis vollumfänglich genutzt haben, können sie sie aktuell ohne Reue genießen.
Eine Hauptversammlung ist keine Folkloreveranstaltung
Mit Rechtsverordnung vom 20. Oktober 2020 hat die Bundesregierung nun die Geltung der Erleichterungen bis Ende 2021 verlängert – und zwar trotz zunehmend kritischer Äußerungen in unveränderter Form und damit insbesondere unter Aufrechterhaltung der vorgenannten Nachteile für die Aktionäre. Es wird spannend werden, wie die Praxis mit der Verlängerung der eingeräumten Möglichkeiten umgehen wird.
Insbesondere im Hinblick auf die Praxis des Frage- und Rederechts der Aktionäre ist sicher die Versuchung für Unternehmen groß, an dem Vorgehen aus dem Jahr 2020 festzuhalten und keine direkte Kommunikationsmöglichkeit für die Aktionäre während der Hauptversammlung zuzulassen. Denn die Aussicht, Fragen im Vorfeld der Versammlung zu sichten und die Antworten in relativer Ruhe vorzubereiten, ist ohne Zweifel verlockend. Und bereits vor der Pandemie gab es viele Stimmen, die Hauptversammlungen als reine „Folkloreveranstaltungen“ abtaten und die sicher froh wären, auch in Zukunft ohne polemische Wortmeldungen und lästige Fragen auszukommen.
Auf der anderen Seite darf nicht vergessen werden, dass die Hauptversammlung für Kleinaktionäre in der Regel die einzige Gelegenheit darstellt, wenigstens einmal im Jahr in den Dialog mit dem Management zu treten und sich unmittelbar einen Eindruck über die Gesellschaft und ihre Entwicklung zu verschaffen, an der ihnen zumindest ein kleiner Teil gehört. Eine lebendige Hauptversammlung gehört damit nicht nur zu einer guten Aktionärskultur; sie ist im Grunde auch für jedes Unternehmen wichtig, um die eigenen Aktionäre „mitzunehmen“ und an die Gesellschaft zu binden. Denn Investoren erwarten von ihren Unternehmen, dass sie auch in der digitalen Welt nahbar sind.
Nach Aussage verschiedener Dienstleister, die Hauptversammlungen organisieren, besteht jedenfalls in der kommenden Saison die Möglichkeit, einen direkten Kommunikationskanal für die Aktionäre auch während der Versammlung anzubieten. Auch Start-ups bringen sich in Stellung. Gerade vor dem Hintergrund, dass auch im kommenden Jahr die Möglichkeiten einer Anfechtung aufgrund der Fortgeltung des Covid-19-Abmilderungsgesetzes begrenzt sein werden, sollten die Unternehmen erwägen, ob sie von dieser Möglichkeit Gebrauch machen sollten. Denn in Fachkreisen wird bereits lebhaft diskutiert, mit welchen Anpassungen das Modell der virtuellen Hauptversammlung in Zeiten nach der Corona-Pandemie zur Dauerlösung für Unternehmen gemacht werden könnte. Ein Umstand zeichnet sich dabei bereits ab: Die aktuellen Einschränkungen der Aktionärsrechte werden in dieser Form künftig wohl nicht mehr übernommen werden.
Daher böte die kommende HV-Saison auch vor diesem Hintergrund die Chance, schon einmal ohne größere Risiken für eine mögliche Praxis nach Covid-19 zu proben und Wortbeiträge beziehungsweise Fragen von Aktionären auch während der Hauptversammlung zuzulassen. So könnten sie die Zwei-Kanal-Kommunikation mit ihren Aktionären in der virtuellen Hauptversammlung praktisch risikolos testen, um ihnen wieder ein wenig mehr das Gefühl der Unmittelbarkeit zu vermitteln.
„Hausrecht“ wie in den sozialen Netzwerken
Grund zu übertriebener Furcht müssen die Unternehmen dabei nicht haben. Denn es bestehen zahlreiche Mittel, die genutzt werden könnten, um einen reibungslosen Ablauf der Versammlung zu ermöglichen.
Einige davon sind bereits aus den bisherigen Präsenzversammlungen bekannt und erprobt und lassen sich problemlos in die virtuelle Welt übertragen: So könnte beispielsweise analog zur Beschränkung der Redezeit in einer physischen Hauptversammlung die Zahl der Fragen begrenzt werden. Fragen, die auch in einer Präsenzversammlung nicht zu beantworten wären, müssen selbstverständlich auch im Rahmen einer virtuellen Versammlung nicht beantwortet werden. Und notfalls könnte der Versammlungsleiter – wie bei der Schließung der Rednerliste in der analogen Welt – im Fall einer überlangen virtuellen Hauptversammlung weitere Fragen einfach nicht mehr zulassen. Zudem ist es bereits jetzt möglich – wenn auch selten praktiziert –, besonders relevante oder erwartbare Fragen der Aktionäre schon im Vorfeld auf der Homepage der Gesellschaft zu beantworten und diese Fragen in der Versammlung selbst dann nicht mehr zuzulassen.
Zudem lohnt auch ein Blick in die digitale Welt außerhalb des Gesellschaftsrechts. Hier ist es beispielsweise in sozialen Medien möglich, beleidigende oder strafrechtlich relevante Beiträge zu löschen und die Urheber notfalls zu blockieren. In ähnlicher Weise könnte auch der Versammlungsleiter sein virtuelles „Hausrecht“ ausüben und Beträge und Fragen von Aktionären, die ihr Frage- und Rederecht für Beleidigungen oder unsachgemäße Beiträge missbrauchen, nicht zur Beantwortung zulassen. Und wenn in Fernsehsendungen mehr oder weniger repräsentative Beträge von Zuschauern über soziale Medien ausgewählt, verlesen und anschließend diskutiert werden, würde ein vergleichbares Vorgehen in der Hauptversammlung auf jeden Fall zu einer Belebung gegenüber dem Status quo führen – und bei guter Nutzung überdies zu einem Imagegewinn für das Unternehmen.
Mit derlei Instrumenten im Gepäck könnten die Unternehmen daher im nächsten Jahr die Gelegenheit nutzen, Strukturen und Ablauf der althergebrachten Hauptversammlung nachhaltig zu modernisieren und in das 21. Jahrhundert zu bringen – und überdies auch noch für eine Belebung der Hauptversammlungskultur zu sorgen. Für Deutschland als Kapitalmarkt, aber für die Anleger wäre dies eine gute Entwicklung.
Dr. Christof Alexander Schneiderist Partner bei ARQIS Rechtsanwälte in Düsseldorf und Experte für Gesellschaftsrecht.