Die Covid-19-Pandemie hat hierzulande in ganz vielen Bereichen für einen echten Digitalisierungs- und Modernisierungsschub gesorgt. Obwohl aus der Not heraus geboren, hat er in vielerlei Hinsicht zu Ergebnissen geführt, die sich bewährt haben – so auch bei der virtuellen Hauptversammlung (HV).
Bei dem Unterfangen, die praktikablen Notregelungen in eine dauerhafte wie zukunftsfähige virtuelle Option der Aktionärstreffen zu verwandeln, rudert der Gesetzgeber nun aber wieder zurück. Wertvolle Erfahrungen der vergangenen zwei Jahre könnten so auf der Strecke bleiben.
Im Zuge der Hochphase der Pandemie wurden in Deutschland erstmals rein virtuelle Hauptversammlungen befristet zugelassen. Teile der Generaldebatte wurden dabei ins Vorfeld der Versammlung verlagert, Anfechtungsmöglichkeiten eingeschränkt. Die Teilnahme war ohne aufwändige Anreise möglich, sodass die Präsenzen stiegen.
Sicher, der Notrahmen für die virtuelle HV blieb nicht ohne Kritik. Insbesondere die Umwandlung des Auskunftsrechts zu einer bloßen Fragemöglichkeit, das fehlende Rederecht und die nicht vorhandene Antragsmöglichkeit in der Versammlung sorgten bei einigen Aktionärsvertretern für Unmut. Dies aufgreifend schärfte der Gesetzgeber Ende 2020 nach. Aus der Fragemöglichkeit wurde ein Fragerecht der Aktionäre. Darüber hinaus führten viele Gesellschaften freiwillig weitergehende Interaktionsmöglichkeiten ein, um den Austausch mit den Anteilseignern im digitalen Raum weiter zu beleben.
Ein ausgewogener Referentenentwurf
Nun laufen die pandemischen Notregelungen Ende August aus. Der Gesetzgeber ist deshalb gefordert, für die virtuelle Hauptversammlung einen dauerhaften und verlässlichen Rahmen zu schaffen. Noch der Referentenentwurf aus dem Februar dieses Jahres stimmte zuversichtlich, hielt er doch an der Grundidee einer teilweisen Verlagerung ins Vorfeld der Versammlung fest. Gestützt auf die Erfahrungen mit den freiwilligen Interaktionsmöglichkeiten wurden aber auch die Aktionärsrechte deutlich ausgeweitet, indem etwa ein Nachfragerecht und ein Live-Rederecht vorgesehen wurden. Der im Notgesetz noch enthaltene weitgehende Anfechtungsausschluss wurde auf technische Störungen beschränkt. Dieser ausbalancierte Ansatz stieß im Ergebnis auf breite Zustimmung im Markt und in Fachkreisen, umso überraschender war die Kehrtwende im Regierungsentwurf.
Die Einführung der virtuellen Hauptversammlung ins Aktiengesetz bietet die Chance, die HV analoger Prägung in der digitalen Welt effizient aufzusetzen. Ein wichtiger Aspekt ist dabei die Entzerrung der Generaldebatte durch die Vorverlagerung von Fragen und Anträgen. Im vorliegenden Regierungsentwurf ist davon leider wenig übriggeblieben. Dabei wäre die Entzerrung nicht nur für die virtuelle, sondern auch für die Präsenz-HV wünschenswert, damit die begrenzte Zeit der HV sinnvoller genutzt werden kann und den Aktionären wie der Verwaltung eine bessere Vorbereitung ermöglicht wird.
Sinn und Zweck der Hauptversammlung ist es, dass Aktionäre auf der HV fundierte Entscheidungen treffen können, die dann zu soliden Mehrheiten führen. Um dies tun zu können, müssen sie rechtzeitig und angemessen informiert werden. Dies gilt auch für Anträge, die lange vor der HV gestellt werden können, damit jeder Aktionär ausreichend Zeit hat, sich mit ihnen zu befassen. Der aktuelle Gesetzentwurf ignoriert dies und sieht vor, dass sämtliche Aktionärsanträge nun auch in der Versammlung gestellt werden können sollen.
Live-Rederecht wenig praktikabel
Auch beim Auskunftsrecht muss nachgebessert werden. Der Vorstand kann zwar nach wie vor anordnen, dass Fragen bis spätestens drei Tage vor der Versammlung einzureichen sind. Allerdings ist jetzt nicht nur vorgesehen, dass die Gesellschaft dann auch die Antworten bereits vorab veröffentlichen muss. Vielmehr können in der Versammlung von allen Aktionären Nachfragen, Fragen zu neuen Sachverhalten und – wenn es die Zeit erlaubt – sogar weitere Fragen zu Themen gestellt werden, zu denen bereits vorab Fragen hätten eingereicht werden können. Darüber hinaus soll nach dem Regierungsentwurf jeder Aktionär zusätzlich live eine Rede halten und während dieser Fragen stellen können. Dies dürfte dazu führen, dass sich die Arbeit der Unternehmen praktisch verdoppelt.
Insgesamt ist das Live-Rederecht wenig realitätsnah ausgestaltet. So ist die Anmeldung der Redner vor dem HV-Tag nicht mehr vorgesehen, die erforderlich ist, um die Zugänge zu den Rednern technisch testen zu können. Eine HV ist eben keine zu groß geratene Teams- oder Zoom-Konferenz, sondern stellt ganz andere Anforderungen, auch in puncto Rechtssicherheit.
Der Regierungsentwurf adressiert auch nicht, wie Unternehmen damit umgehen sollen, wenn gleichzeitig eine Vielzahl von Fragen während der HV elektronisch eingehen. Die Möglichkeit, Fragen auf elektronischem Weg einzureichen, hat zu einem erheblichen Anstieg des Frageaufkommens geführt. Werden diese Fragen während der Hauptversammlung gestellt und müssen dort beantwortet werden, kann diese schnell an ihre zeitlichen Grenzen gebracht, im Extremfall sogar (absichtlich) gesprengt werden. Im Gegensatz zur Präsenzversammlung können zudem zahlreiche Wortmeldungen gleichzeitig eingehen, mit dem Ergebnis, dass die verfügbare Zeit keine angemessene Rededauer für jeden angemeldeten Redner ermöglicht.
Modernisierung bleibt auf der Strecke
Im Ergebnis verlagert die aktuell vorgesehene Neuregelung zur virtuellen HV sämtliche Defizite der überkommenen Präsenzversammlung ins Internet, statt beide Formate fortzuentwickeln. Damit bewegt sich der Gesetzgeber fernab dessen, was praktikabel und im Interesse von Aktionären und Unternehmen ist. Von der erhofften und dringend benötigten Modernisierung und Entzerrung der HV (unabhängig vom Format) ist wenig zu spüren. In der Konsequenz werden viele Unternehmen deshalb zukünftig vom virtuellen Versammlungsformat Abstand nehmen. Das kann im digitalen Zeitalter nicht im Interesse des Wirtschaftsstandorts Deutschland sein. Der Gesetzgeber sollte reagieren. Zahlreiche gute Vorschläge liegen spätestens seit dem Referentenentwurf auf dem Tisch.