Mehr als drei Jahre nach der Pleite des Zahlungskonzerns Wirecard entwickelt sich das Musterverfahren vor dem Bayerischen Obersten Landesgericht zu einer Geduldsprobe für geschädigte Anleger und zu einer massiven Belastung für die Justiz. Wie Gerichtssprecherin Beate von Geldern-Crispendorf auf Anfrage von Capital mitteilte, seien bereits mehr als 8.000 Anmeldungen früherer Aktionäre erfasst worden. Darüber hinaus stünden noch „mehrere Tausend“ Anmeldungen zur Bearbeitung an.
Schon heute gibt es in dem Massenverfahren bereits fast 3.000 Verfahrensbeteiligte. Dabei handelt es sich um ehemalige Wirecard-Aktionäre, die nach dem Auffliegen des Bilanzbetrugs Mitte 2020 Einzelklagen gegen Ex-Wirecard-Manager und die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY eingelegt hatten. Damit sei dieses Musterverfahren „nach Dimension und Komplexität beispiellos“, sagte Gerichtssprecherin von Geldern-Crispendorf. Dabei wird nicht jeder, der Ansprüche angemeldet hat, formal auch Verfahrensbeteiligter, sondern nur jene, deren Einzelklagen ausgesetzt wurden. Für das Musterverfahren konnten folglich aber auch solche Anleger ihre Ansprüche anmelden, die bislang noch nicht geklagt hatten.
Nach der Insolvenz des damaligen Dax-Konzerns hatten Tausende Anleger zunächst individuell gegen frühere Wirecard-Manager und EY geklagt. Später wurden die ähnlich gelagerten Fälle dann von der bayerischen Justiz in einem Musterverfahren nach dem Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMuG) zusammengefasst. Im März 2023 hatte das Bayerische Oberste Landesgericht in München dazu einen Musterkläger bestimmt. Bis Ende September konnten Geschädigte Ansprüche anmelden. In der Folge ging es zunächst viel um Formalitäten, etwa um die Definition von Feststellungzielen für das Verfahren.
Bislang nur überschaubare Verstärkung
Als Beklagte in dem Musterverfahren wurden zunächst acht Personen und Unternehmen benannt – darunter Ex-Konzernchef Markus Braun und der flüchtige Ex-Vorstand Jan Marsalek sowie die Prüffirma EY und einzelne Prüfer, die früher für EY tätig waren. Im Oktober erweiterte das Gericht dann den Kreis der Musterbeklagten um einen weiteren Ex-EY-Prüfer sowie den Ex-Wirecard-Manager Oliver Bellenhaus, der heute als Kronzeuge der Staatsanwaltschaft auftritt und im laufenden Strafprozess vor dem Landgericht München I den früheren CEO Braun belastet. Gegen die beiden zusätzlichen Musterbeklagten können Anleger noch bis April 2024 Ansprüche anmelden. Bis zum Abschluss des Verfahrens dürften noch viele Jahre vergehen. Im Fall des bisher größten KapMuG-Verfahrens bei der Deutschen Telekom dauerte der Streit insgesamt fast 20 Jahre. Viele der Kläger erlebten das Ende nicht mehr.
Mit dem Wirecard-Verfahren ist am Bayerischen Obersten Landesgericht der Erste Zivilsenat unter Vorsitz von Gerichtspräsidentin Andrea Schmidt befasst. Um die Lawine an Anmeldungen und Anträgen zu bewältigen, hat das Gericht zwar personelle Verstärkung erhalten – allerdings nur in überschaubarem Maße. Nach Auskunft der Gerichtssprecherin wurden unter anderem einige Richterinnen und Richter als wissenschaftliche Mitarbeiter von anderen bayerischen Gerichten „zu einem geringen Arbeitskraftanteil“ teilabgeordnet, um die eingegangenen Anmeldungen fachlich zu prüfen. Auch für die Erfassung der Tausenden Anmeldungen seien einzelne Beamtinnen und Justizangestellte von anderen bayerischen Gerichten „teilabgeordnet“ worden. In Summe geht es demnach aber jeweils nur um weniger als drei zusätzliche Vollzeitstellen für das KapMuG-Verfahren.
Sprecherin von Geldern-Crispendorf warnte davor, dass das Bayerische Oberste Landesgericht das Verfahren mit seinen aktuellen Personalmitteln nicht bewältigen könne. Wegen der Komplexität und der hohen Zahl an Verfahrensbeteiligten werde man eine „personelle Aufstockung sowohl im richterlichen wie auch im nichtrichterlichen Unterstützungsbereich benötigen“, erklärte sie. Grund dafür sei auch das KapMuG, das dem zuständigen Gericht wenig Gestaltungsmöglichkeiten einräume. Der hohe Arbeitsaufwand werde zu einem erheblichen Teil dadurch verursacht, dass das Gesetz eine umfassende Prüfung von Verfahrensfragen erfordere und so die Konzentration auf entscheidungserheblichen Fragen erschwere, kritisierte die Sprecherin.
Klägeranwalt: „Gericht wird alleine gelassen“
Der Rechtsvertreter des Musterklägers äußerte scharfe Kritik an der unzureichenden Ausstattung des Gerichts. „Das Gericht wird hier von der bayerischen Justizverwaltung alleine gelassen“, sagte der Rechtsanwalt Marc Liebscher im Gespräch mit Capital. Der Fall zeige, dass das deutsche Rechtssystem nicht in der Lage sei, derartige Massenverfahren zu bewältigen, fügte Liebscher hinzu. Der Kapitalmarktexperte der Berliner Kanzlei Dr. Späth & Partner hatte Anfang des Monats die Federführung im Anwaltsteam des Wirecard-Musterklägers Kurt Ebert übernommen, anstelle der Münchner Anlegerkanzlei Mattil. Neben Liebscher besteht das Team aus dem Anwalt Elmar Vitt und der Anwältin Annette Heinisch. Die Kanzlei Mattil unterstützt das Team zwar noch, darf nun aber in der Öffentlichkeit nicht mehr für den Musterkläger sprechen.