Betrugsskandal Was die Ermittler über den Wirecard-Betrug wissen

Wirecard-Zentrale in Aschheim bei München
Wirecard-Zentrale in Aschheim bei München
© IMAGO / Sven Simon
Nach mehr als anderthalbjährigen Ermittlungen hat die Münchner Staatsanwaltschaft die zentrale Anklage im Bilanzskandal bei Wirecard vorgelegt. Capital beantwortet die wichtigsten Fragen

Es war ein Ermittlungsverfahren, wie es wohl auch die in großen Wirtschaftsskandalen erfahrene Staatsanwaltschaft München I noch nicht erlebt hat. Mit Unterstützung einer Sonderkommission von zeitweise bis zu 16 Kriminalbeamten durchleuchteten die Staatsanwälte im Komplex um den Skandalkonzern Wirecard rund 340 Firmen, 450 Personen und mehr als 1100 Bankverbindungen. Sie erwirkten rund 40 Durchsuchungsbeschlüsse in Deutschland und weitere im Ausland, sicherten 42 Terabyte Daten und führten 450 Vernehmungen durch.

Man habe in diesem Verfahren, das 700 Aktenordner füllt, „akribische Kleinarbeit“ geleistet, attestieren sich die Ermittler selbst. Die Ergebnisse ihrer Recherchen trugen sie jetzt in einer 474-seitigen Anklageschrift zusammen. Sie soll die Grundlage bilden für die juristische Aufarbeitung des Bilanzskandals bei dem Aschheimer Zahlungskonzern – des größten Finanzskandals in der jüngeren Wirtschaftsgeschichte des Landes. Capital beantwortet die wichtigsten Fragen zu der Anklage:

Was haben die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft ergeben?

Das zentrale Ermittlungsergebnis bezieht sich auf ein angebliches Milliardenvermögen von Wirecard auf Treuhandkonten in Asien. Nach den von der erfahrenen Wirtschaftsexpertin Hildegard Bäumler-Hösl geführten Ermittlungen hält es die Staatsanwaltschaft für erwiesen, dass die Manager besonders lukrative Geschäfte in Asien schlicht erfunden haben. Dabei ging es um die Abwicklung von Zahlungen für Unternehmen, für die der Konzern auf die Dienste dreier Partnerfirmen zurückgriff – angeblich wegen fehlender eigener Lizenzen. In den Bilanzen wurden die Erlöse aus diesem sogenannten Drittpartnergeschäft (TPA) als cash ausgewiesen. Nach den Erkenntnissen der Ermittler gab es diese angeblich auf Treuhandkonten in Asien deponierten Guthaben – laut Bilanz knapp 1 Mrd. Euro zum Jahresende 2018, später sogar 1,9 Mrd. Euro – allerdings „zu keinem Zeitpunkt“. Die entsprechenden Bestätigungen des „angeblichen Treuhänders“ oder des Dubai-Statthalters B., die Wirecard auch den Abschlussprüfern von EY vorgelegt hat, seien nach den Vorgaben des Chefbuchhalters „gefälscht“ worden, konstatiert die Staatsanwaltschaft.

Gegen wen hat die Staatsanwaltschaft Anklage erhoben?

Im Wirecard-Komplex hat die Münchner Staatsanwaltschaft, die wegen ihres trotz zahlreicher Warnzeichen lange Zeit zögerlichen Vorgehens gegen den Konzern selbst in die Kritik geraten ist, gegen mehr als 20 Personen ermittelt oder ermittelt weiter. Die jetzt mit Datum vom 10. März erhobene Anklage richtet sich zunächst gegen drei Ex-Manager des früheren Dax-Konzerns, allen voran gegen den langjährigen Vorstandschef Markus Braun. Weitere Beschuldigte sind der frühere Chefbuchhalter Stephan von E. und der Dubai-Statthalter Oliver B., der die Wirecard-Tochter Card Systems Middle East geleitet hat. Die Dubai-Tochter spielte eine zentrale Rolle bei den Bilanzmanipulationen. Ihr früherer Chef B. dient heute als Kronzeuge der Staatsanwaltschaft, seine Aussagen belasten Ex-CEO Braun.

Ex-Wirecard-Vorstandschef Markus Braun als Zeuge vor dem Wirecard-Untersuchungsausschuss
Ex-Wirecard-Vorstandschef Markus Braun als Zeuge vor dem Wirecard-Untersuchungsausschuss
© Simone M. Neumann/DBT

Gegen weitere mutmaßliche Beteiligte an dem Betrugssystem laufen die Ermittlungen weiter – allen voran gegen das für das Asien-Geschäft zuständige Vorstandsmitglied Jan Marsalek, der seit dem Zusammenbruch des Konzerns im Juni 2020 auf der Flucht ist.

Welche konkreten Vorwürfe erhebt die Staatsanwaltschaft gegen die Ex-Manager?

Die Staatsanwaltschaft wirft den früheren Topmanagern Straftaten in fünf „Tatkomplexen“ vor. So sollen die Bilanzen der Jahre 2015 bis 2018 die wirtschaftlichen Verhältnisse des Konzerns falsch wiedergegeben haben – eben durch die nicht existenten ertragreichen Geschäfte in Asien, ohne die Wirecard tatsächlich defizitär gewesen wäre. Braun seien die „unrichtigen Buchungszahlen“ und falschen Konzernbilanzen bewusst gewesen, die beiden anderen Angeschuldigten hätten ihn dabei unterstützt, konstatieren die Ermittler. Durch die Veröffentlichung der „erheblich geschönten Zahlen“ hätten die Beteiligten den Eindruck erwecken wollen, dass es sich bei Wirecard um ein erfolgreiches Unternehmen gehandelt habe. Diese „Manipulation der Bilanzkennzahlen“ habe dazu gedient, Finanzmittel von Investoren und Banken zu erlangen, schreiben die Ermittler – wobei die drei Ex-Manager durch bewusstes Zusammenwirken bandenmäßig vorgegangen seien. Demnach habe Braun die Höhe der zu veröffentlichenden Kennzahlen vorgegeben, von E. und B. hätten die Vorgaben „umgesetzt“.

Die Staatsanwaltschaft wirft den Angeschuldigten insgesamt 26 Fälle der Marktmanipulation vor. Im Fall von Ex-Chef Braun kommt zudem der Vorwurf der Untreue hinzu: So soll er nach den Erkenntnissen der Ermittler noch wenige Monate vor der Insolvenz die Auszahlung von Krediten in dreistelliger Millionenhöhe an eine dubiose Partnerfirma in Singapur veranlasst haben – wobei eine Teilsumme von 35 Mio. Euro bei Marsalek gelandet sei, der mit dem Geld einen Privatkredit von Braun zurückgezahlt habe. Dabei habe Ex-Chefbuchhalter E. Beihilfe zur Untreue geleistet.

Was sagen die Ex-Manager zu den Vorwürfen?

Die Verteidigung von Ex-Chef Braun reagierte empört auf die Anklageschrift, die Vorwürfe „vollumfänglich“ zurückgewiesen – und die Staatsanwaltschaft scharf attackiert. Braun sei nie „Teil einer Bande“ gewesen, vielmehr habe die Bande „Millionensummen hinter seinem Rücken veruntreut“, erklärte sein Sprecher. Dieser spricht von einer „Schattenstruktur“, von der Braun erst durch das Studium der Akten in der Untersuchungshaft erfahren habe. Demnach will der Manager, der bei Wirecard als absoluter Herrscher galt, von dem Treiben einer Clique um seinen Kollegen Marsalek über Jahre nichts mitbekommen haben.

Konkret bestreitet Brauns Verteidigung die zentrale Prämisse der Ermittler – die auch von Wirecard-Insolvenzverwalter Michael Jaffé nach eigenen Untersuchungen gestützt wird –, wonach es das Geschäft mit Drittpartnern tatsächlich nicht gegeben habe: Es mache „fassungslos“, dass die Staatsanwaltschaft trotz „aktenkundiger Belege“ in Form von Kontoauszügen an der Behauptung festhalte, dass es das Drittpartnergeschäft nicht gegeben habe, erklärte Brauns Verteidiger Alfred Dierlamm. Tatsächlich seien zwischen 2016 und 2020 auf den inländischen Konten der Wirecard-Drittpartner Umsätze von knapp 1 Mrd. Euro eingegangen. Der Großteil des Geldes sei dann ohne Brauns Wissen über „Schattenstrukturen veruntreut und auf Briefkastengesellschaften im Ausland verschoben“ worden.

Der Anwalt des früheren Dubai-Statthalters B. betonte, sein Mandant habe als Kronzeuge „Aufklärungshilfe“ geleistet. Die Anklageerhebung zeige, dass B. gegenüber der Staatsanwaltschaft wahrheitsgemäß ausgesagt habe. Die Theorie des Braun-Lagers von einem „bankinternen Bankraub“ habe sich wohl nicht erwiesen. „Außer dem Kronzeugen scheint kaum jemand sich für fehlerhaftes Handeln verantwortlich zu fühlen oder sich gar entschuldigt zu haben“, erklärte der Verteidiger. Die Anwälte des früheren Chefbuchhalters von E., der heute auf freiem Fuß ist, äußerten sich am Montag nicht zu der Anklageerhebung.

Wie geht es jetzt weiter?

Die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft liegt nun bei der 4. Strafkammer des Landgerichts München I. Die Kammer muss entscheiden, ob sie die Anklage zur Hauptverhandlung zulässt. Ein Prozess könnte im Herbst beginnen, er könnte sich über Jahre hinziehen – solange die Ermittler keine „smoking gun“ liefern können, sondern sich auf Indizien und Aussagen Dritter wie der von Ex-Dubai-Statthalter B. stützen müssen. Dabei wäre nicht zuletzt entscheidend, für wie glaubwürdig die Richter den Kronzeugen halten. Sollte es zu einer Verurteilung kommen, drohen Braun mehr als zehn Jahre Haft.

Unabhängig von der jetzigen Anklage laufen die Ermittlungen gegen andere Tatverdächtige im Wirecard-Komplex weiter, wie die Staatsanwaltschaft betonte. Das betrifft vor allem Marsalek, der als Mastermind des Betrugs gilt und sich nach dem Crash des Konzerns im Juni 2020 absetzte. Wo sich der weltweit gesuchte Marsalek, der ein Doppelleben als Topmanager und Geheimdienstfan führte, heute aufhält, ist weiterhin unbekannt. Manche vermuten ihn nach wie vor in Russland, andere spekulieren, dass er seinen Aufenthaltsort zwischenzeitlich verlegt hat, womöglich nach Dubai, wo sich einige Personen aus seinem früheren privaten Umfeld niedergelassen haben. In ihrer Pressemitteilung hält die Staatsanwaltschaft nüchtern fest: „Die Fahndungsmaßnahmen gegen das Bandenmitglied M. laufen weiter.“

Behörden weltweit suchen nach dem früheren Wirecard-Manager Jan Marsalek - auch Zielfahnder des Polizeipräsidiums München. Dort liefen schon 2015 kurzzeitig Ermittlungen gegen Marsalek
Behörden weltweit suchen nach dem früheren Wirecard-Manager Jan Marsalek
© Jürgen Heinrich / IMAGO

Was bedeutet die Anklageerhebung für Anleger?

Die strafrechtliche Aufarbeitung hat erst einmal keine unmittelbaren Auswirkungen auf die Schadensersatzansprüche von Aktionären, die mit der Wirecard-Pleite mehr als 20 Mrd. Euro verloren haben. Allerdings könnte ein Prozess auch wichtige Erkenntnisse für weitere Klagen im Wirecard-Komplex liefern: etwa für Insolvenzverwalter Jaffé, der kurz vor Weihnachten Klage gegen Braun sowie weitere Ex-Vorstände und Ex-Aufsichtsräte eingereicht hat, sowie gegen den Wirtschaftsprüfer EY. Bei der Klage von Jaffé geht es um die dubiosen Darlehen in Höhe von insgesamt 140 Mio. Euro an die Firma in Singapur, die auch Gegenstand der jetzigen Anklage der Staatsanwaltschaft sind. Allerdings ist unklar, wie viel Geld bei den Ex-Managern im Erfolgsfall zu holen wäre.

Für Anleger wichtiger dürften deshalb mögliche Ansprüche gegen die Wirtschaftsprüfungsfirma EY sein. Dabei gibt es eine neue Entwicklung: Am Dienstag teilte die Anlegerkanzlei Tilp mit, dass sie beim Landgericht München I die Einleitung eines Musterverfahrens gegen EY erwirkt habe: Demnach wird nun das Bayerische Oberlandesgericht in einem Verfahren nach dem Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz klären, ob Mitarbeiter von EY bei der Prüfung der Wirecard-Bilanzen Pflichtverletzungen begangen haben und ob geschädigte Investoren Ansprüche auf Schadensersatz geltend machen können. Mit der Einleitung des Sammelverfahrens werden alle derzeit laufenden Einzelklagen ausgesetzt. In der Vergangenheit hatte das Landgericht München praktisch alle Klagen gegen EY abgewiesen, wegen heftiger Verfahrensmängel aber kurz vor Weihnachten eine Rüge des Oberlandesgerichts München kassiert.

Nun übernimmt Bayerns oberstes ordentliches Gericht: Dabei prüft es zunächst, ob Wirecard unter CEO Braun falsche Bilanzen veröffentlicht hat – und dann, welche Rolle die EY-Prüfer dabei gespielt haben. Schnelle Entscheidungen dürfen Anleger allerdings nicht erwarten: Musterverfahren, wie etwa bereits bei der Telekom oder VW, dauern in der Regel mehrere Jahre.

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