Wenn Nicolaus von Rintelen das Geschäft seines Unternehmens Virtual Solution erklären wollte, griff er gerne zu einem Flipchart und einem Stift. Seinen „Standardvortrag“ nannte er die Präsentation über jene IT-Securityfirma, deren Software SecurePIM sensible Kommunikation von mehr als 40 Bundesbehörden schützt – vom Kraftfahrtbundesamt über das Finanzministerium bis hin zum Bundeskriminalamt.
An diesem Montag wurde nun öffentlich bekannt gegeben, dass der Investor den wichtigen Cybersecurity-Dienstleister der Bundesregierung verkauft hat. Neuer Eigentümer ist der Dortmunder IT-Sicherheitsspezialist Materna. Ein Kaufpreis für den Deal lässt sich nicht ermitteln, die Beteiligten haben Stillschweigen vereinbart.
Für Materna, ein Unternehmen mit zuletzt 350 Mio. Euro Umsatz und mehr als 3000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, ist der Zukauf auf den ersten Blick wenig spektakulär: Laut dem letzten verfügbaren Jahresabschluss 2020 machte Virtual Solution gerade einmal einen Umsatz von 8,7 Mio. Euro – bei einem Verlust von 4,4 Mio. Euro. Auf der anderen Seite aber hat das Münchner Unternehmen mit rund 90 Mitarbeitern eine Sonderstellung und strategische Bedeutung für die Bundesregierung: Als einziger deutscher Anbieter verfügt es sowohl für iPhones und iPads als auch für Android-Geräte über eine Zertifizierung für Regierungsdokumente, die als vertraulich eingestuft sind: Allein neun Bundesministerien nutzen aktuell die Container-App SecurePIM – bis hinein in die höchsten Ebenen: Auch Olaf Scholz und einige seiner engsten Vertrauten setzen auf die Sicherheitssoftware aus München.
Treffen in Marsaleks Villa
Aber auch aus einem anderen Grund tauchte Virtual Solution zuletzt in den Schlagzeilen auf: Im Herbst wurde bekannt, dass der bisherige Mehrheitsgesellschafter von Rintelen bis 2020 Kontakte zu engen Vertrauten des früheren Wirecard-Vorstands Jan Marsalek unterhielt. Dazu zählte ein Kompagnon des heute untergetauchten Managers, der nach Erkenntnissen der Staatsanwaltschaft Marsalek dabei geholfen haben soll, einen Betrag von 22 Mio. Euro aus dem Wirecard-Konzern zu schleusen und zu waschen. Auch mit dem mutmaßlichen Fluchthelfer von Marsalek, einem Ex-Agenten des österreichischen Verfassungsschutzes BVT, mit dem der frühere Wirecard-Manager auch noch Wochen nach dem Crash des Konzerns und seiner Flucht aus Deutschland Kontakt hielt, war von Rintelen gut bekannt. Der frühere Spion war auch mindestens einmal zu Besuch bei Virtual Solution und dabei behilflich, für das Unternehmen Geschäftskontakte in Österreich anzubahnen.
Auch Marsalek selbst hat von Rintelen getroffen – im Sommer 2018 in jener noblen Villa in der Münchner Prinzregentenstraße, aus der heraus Marsalek und sein engster Zirkel ihre privaten Geschäfte dirigierten und in der er regelmäßig Gäste aus der Sicherheits- und Geheimdienstcommunity empfing – darunter auch oft ein früherer Mitarbeiter aus dem Stab von Russlands Präsident Wladimir Putin, dem eine Nähe zu russischen Nachrichtendiensten nachgesagt wird. In eben dieser Villa stellte der 52-jährige Investor nach eigener Aussage im Juli 2018 sein Unternehmen vor. Bei zwei Treffen sei es aber ausschließlich um eine Geschäftsanbahnung mit dem Wirecard-Konzern gegangen, versichert er. Diese habe sich aber 2019 endgültig zerschlagen: „Ein Auftrag kam nie zustande.“
Auch ein „Näheverhältnis“ zu Marsalek bestreitet von Rintelen vehement – wobei seine Anwälte darunter ein „Näheverhältnis“ im „Rechtssinne“ verstehen, welches etwa ein Verwandtschaftsverhältnis oder gemeinsame Geschäfte voraussetzt. Auch stellt sich die Frage, in welchen Kreisen der Eigentümer eines wichtigen Sicherheitsdienstleisters des Bundes Kontakte pflegen sollte, selbst wenn diese juristisch in keiner Weise zu beanstanden sind – und ob bei von Rintelen nicht schon früher die Alarmlampen hätten angehen können oder gar müssen. Anders als andere, die sich heute unfair mit in den Skandal des Wirecard-Konzerns hineingezogen fühlen, kannte er auch manche der merkwürdigen Personen, mit denen sich Marsalek in seinem persönlichen Umfeld umgab – und für die sich heute Strafverfolger in Deutschland und Österreich interessieren.
Sorge um „wirtschaftliche Situation“
Nach Bekanntwerden seiner Verbindungen zum Marsalek-Netzwerk im November erklärte die Bundesregierung zunächst, sie habe nach einer Überprüfung „punktuell“ entschieden, eine „Verkürzung der Zusammenarbeit mit Virtual Solution anzustreben“. Später hieß es, konkret werde nur ein auslaufender Vertrag des Bundeskriminalamts (BKA) nicht verlängert. Bei der Entscheidung sei es um eine rein fachliche Erwägung zu „Einsatzszenarien des BKA“ gegangen. Das Thema Marsalek habe dabei keine Rolle gespielt. Grundsätzlich lägen auch „keine Erkenntnisse vor, die Anlass zur Neubewertung der Produkte und Dienstleistungen der Firma Virtual Solution böten“, betonte die Bundesregierung.

Den Verkauf des IT-Unternehmens, bei dem der seit vielen Jahren in der Schweiz lebende von Rintelen ab 2014 mit seiner Schweizer Holding fast die kompletten Anteile übernahm, sieht der Investor nun als Win-Win-Situation. Bei Materna handele es sich um einen „Wunschkandidaten“, sagt der bisherige Haupteigentümer. Für ihn sei „trotz des Marktinteresses“ nur ein „anerkanntes deutsches Unternehmen“ als Käufer in Frage gekommen – wie eben die namhafte Firma Materna, die seit vielen Jahren Softwarelösungen für den Bund liefert, etwa für die Zoll- und Justizverwaltung oder die Katastrophen-Warn-App Nina. In der Vergangenheit hatte von Rintelen berichtet, Vertreter der Bunderegierung hätten ihn gebeten, Virtual Solution nicht ins Ausland zu verkaufen.
Tatsächlich besteht zwischen der Cybersecurity-Firma und dem Bund seit Jahren ein sehr enges Verhältnis – wie es angesichts der Bedeutung des Unternehmens für den Bund auch nicht überrascht. Nach Angaben der Bundesregierung flossen ab 2014, dem Jahr nach dem Auffliegen der NSA-Affäre und dem Lauschangriff von US-Geheimdiensten auf das Handy der damaligen Kanzlerin Angela Merkel, Gelder an Virtual Solution – zunächst im Rahmen eines aufwändigen Zulassungsverfahrens für die Sicherheitssoftware SecurePIM, ab Ende 2016 dann für die Nutzung der App durch immer mehr Behörden. Bis 2022 summieren sich die erfolgten und geplanten Zahlungen des Bundes auf 15,2 Mio. Euro, wie jüngst aus einer Antwort des Innenministeriums an die Linkfraktion hervorging.
Schon in dem jahrelangen Verfahren, das zu der Zulassung von SecurePIM für Geheimdokumente bis zur Schutzstufe VS-NfD führte, hielten Behörden engen Kontakt mit Haupteigner und Aufsichtsrat von Rintelen. Allen voran das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI), das sich zeitweise offenbar sogar um den Fortbestand des Unternehmens sorgte: Im Juni 2016 kam es zu einem Treffen des damaligen BSI-Präsidenten, seines Vizes und eines Abteilungsleiters aus dem Bundesinnenministerium mit von Rintelen. Der Anlass des Termins, so wie ihn die Bundesregierung heute angibt: „Wirtschaftliche Situation der VS AG und unternehmerische Perspektiven einer Weiterführung des Unternehmens“. In jenem Geschäftsjahr verbuchte die Virtual Solution AG einen Bilanzverlust von 14 Mio. Euro – viel mehr als der Jahresumsatz.
Über die Jahre gab es regelmäßige Treffen zwischen Eigentümer von Rintelen und dem BSI – mal unter vier Augen mit dem Behördenchef in einer Executive Lounge des Berliner Hotels Adlon, zu dessen Gegenstand sich die Bundesregierung in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage ausschwieg, mal unter Vermittlung des früheren CDU-Bundestagsabgeordneten Clemens Binninger, der mehrere Jahre Chef des Kontrollgremiums für die Geheimdienste war. Binninger wollte sich auf Anfrage nicht zu diesem Termin im Frühjahr 2020 äußern. Ein anderes Mal ging es im Mai 2019 bei einem Treffen im BSI um ein „konkretes Projekt des BKA“. Ob Produkte von Virtual Solution auch bei den Nachrichtendiensten des Bundes eingesetzt werden, hält die Bundesregierung – wie in solchen Fällen üblich – unter Verweis auf das Staatswohl auch gegenüber den Abgeordneten geheim.
Russischer Gas-Oligarch als „Mentor“
Jahrelang schrieb Virtual Solution rote Zahlen, vor allem wegen der hohen Entwicklungskosten für die Sicherheitsapp SecurePIM, die in erster Linie an Behörden, aber auch an Unternehmen wie Finanzdienstleister oder Rüstungskonzerne verkauft wird. Im Corona-Krisenjahr 2020 lag laut Geschäftsbericht zweitweise eine buchtechnische Überschuldung vor. Die Löcher in den Bilanzen stopfte von Rintelen wiederholt mit Gesellschafterdarlehen in Millionenhöhe und Kapitalerhöhungen.
Das Geld dafür kam unter anderem aus dem früheren Verkauf eines Pakets von Aktien des russischen Gasriesen Novatek, für dessen Hauptaktionär Leonid Michelson von Rintelen nach einer beruflichen Station im Linde-Konzern für mehr als ein Jahrzehnt bis Ende 2013 gearbeitet hatte. Heute nennt er Michelson seinen „Mentor“ und verteidigt ihn vehement. Der Putin-nahe Oligarch, einer der reichsten Russen, könnte sich nach dem russischen Angriff auf die Ukraine bald auf westlichen Sanktionslisten wiederfinden. Gegen sein Unternehmen haben die USA schon früher Sanktionen verhängt.

Von Rintelens Verbindung nach Russland hat auch einen familiären Hintergrund, seine Mutter ist eine Nachfahrin von Zar Alexander II. Für die Bundesregierung spielte die Quelle des Vermögens ihres Geschäftspartners bisher keine Rolle. Laut ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage des Linken-Finanzpolitikers Christian Görke aus dem Januar war der Zulassungsprozess für die Sicherheitssoftware von Virtual Solution auf die „technische Prüfung der Sicherheitsfunktionen“ konzentriert: „Sicherheitsüberprüfungen einzelner natürlicher Personen sind in diesem Rahmen nicht vorgesehen.“ Zu Fragen nach der Eigentümerstruktur bei Virtual Solution verweist sie auf Unternehmensangaben sowie den Bundesanzeiger. „Weitere Erkenntnisse“ lägen ihr nicht vor.
Von Rintelen sagt, er habe das Novatek-Aktienpaket, das er für seine jahrelange Arbeit an einem Liefervertrag zwischen dem zweitgrößten russischen Gaskonzern und dem Energiekonzern EnBW erhalten hat, zwischen 2011 und Ende 2013 verkauft. Michelsen habe bei seinem Einstieg bei Virtual Solution „in keinster Weise“ eine Rolle gespielt. Er selbst halte heute keine russischen Aktien mehr. Mit dem Erlös aus den Novatek-Papieren baute von Rintelen ein Family Office in der Schweiz auf und investiert in Unternehmen. Zudem sitzt er in Verwaltungsräten – etwa neben Ex-Bundeswirtschaftsminister Philipp Rösler bei einem Schweizer Cannabis-Unternehmen sowie bei einer Aerospace-Firma.
2017 erhielt Virtual Solution nach einem jahrelangen Prüfverfahren dann vom BSI die dauerhafte Zulassung für das Apple-Betriebssystem iOS. 2020 folgte die Freigabe für Android-Geräte. Auf Basis eines Rahmenvertrages des Bundes können Ministerien und Bundesbehörden seither Lizenzen der Sicherheitslösung „made in Germany“ ordern. Inzwischen gehören auch große Ressorts zu den Kunden, etwa das Innen- und das Wirtschaftsministerium mit zahlreichen nachgeordneten Behörden. Im Mai 2018 wurde SecurePIM auch im Bundesfinanzministerium eingeführt, im Mai 2020 in der Leitungsebene der Finanzaufsichtsbehörde Bafin. Im Bundestag gab es ein Pilotprojekt für SecurePIM. Zu einer umfassenden Einführung kam es bis heute allerdings nicht.
Geschäftsanbahnung in Österreich
Dennoch hatten in der breiten Öffentlichkeit wohl nur wenige jemals von Virtual Solution gehört, als der Name erstmals in Verbindung mit dem Wirecard-Skandal fiel. Der damalige Linken-Abgeordnete Fabio De Masi stolperte in Vernehmungsprotokollen aus Österreich über die Aussage von Marsaleks mutmaßlichem Fluchthelfer Martin W., der angab, Marsalek und von Rintelen hätten sich „näher“ gekannt. Als Ende April 2021 der damalige Finanzminister und SecurePIM-Nutzer Scholz und Kanzlerin Merkel als Zeugen im Wirecard-Untersuchungsausschuss des Bundestags aussagten, sprach De Masi beide darauf an. Die US-Agentur Bloomberg berichtete über Virtual Solution und die Spur zu Marsalek. Auch SPD-Vertreter im Untersuchungsausschuss äußerten sich besorgt.
Direkt nach der Scholz-Vernehmung meldete sich Finanzstaatssekretär Wolfgang Schmidt, Scholz‘ engster Vertrauter, bei De Masi. Er bat um weitere Informationen, damit man sich kümmern und „nachfassen“ könne. Was der heutige Kanzleramtschef Schmidt damals nicht erwähnte: Er selbst stand schon im Austausch mit von Rintelen – obwohl er im Finanzressort gar nicht für IT-Sicherheit und die eingesetzten Produkte von Virtual Solution zuständig war, wie die Bundesregierung im Januar in ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage einräumte. Darin listete sie vier Kontakte zum „allgemeinen Austausch“ zwischen Scholz‘ Staatssekretär und von Rintelen im Februar 2020 sowie zwei weitere im Januar 2021 auf. Allerdings sei 2020 nur einer als „physisches Treffen“ erfolgt. Ein Großteil der Kontakte lief offenbar per Mail. Worum es bei dem Austausch konkret ging, ist bis heute unklar.
Das Thema schien schon zu versanden, als Monate später Chats bekannt wurden, die ein neues Licht auf die Kontakte des Virtual-Solution-Eigentümers ins engste Umfeld von Marsalek warfen. Die liegen auch Capital vor. In den Whatsapp-Nachrichten mit einem engen Geschäftspartner von Marsalek ging es unter anderem um die Anbahnung von Terminen für von Rintelen, bei denen der frühere hochrangige BVT-Beamte und mutmaßliche Marsalek-Fluchthelfer Martin W. behilflich war.
Dabei handelte es sich etwa um ein von W. als „streng vertraulich“ angekündigtes Treffen für „Nico“ in Marsaleks Münchner Villa mit einem FPÖ-Abgeordneten Anfang 2019. Der Politiker spielte ebenso wie W. auch eine Rolle in einer Affäre beim Verfassungsschutz BVT, die unter Ex-FPÖ-Innenminister Herbert Kickl 2018 zum zeitweisen Austritt Österreichs aus dem internationalen Geheimdienstzirkel Berner Club führte, weil Partner den Österreichern misstrauten. Zudem war der Ex-BVT-Beamte W. an der Vorbereitung von zwei offiziellen Terminen im Wiener Außenministerium Ende 2019 beteiligt.
Tatsächlich stellte von Rintelen im November 2019 seine Firma und ihre Produkte einem Spitzenbeamten im Wiener Außenministerium vor. Der Diplomat steht heute unter Verdacht, streng geheime Dokumente mit der Formel für das russische Nervengift Nowitschok weitergegeben zu haben. Das Dokument landete – wohl über eine Clique von österreichischen Ex-Spionen um W. und dessen Ex-BVT-Kollegen Egisto O. – bei Marsalek, der damit im Sommer 2018 vor Investoren in London prahlte. Als zum Jahreswechsel 2019/2020 großflächige Cyberangriffe auf die österreichische Regierungs-IT liefen, suchte der Spitzendiplomat über W. Kontakt zu von Rintelen. In diese Chats war auch Marsalek eingebunden. Allerdings verfügt Virtual Solution nach eigenen Angaben über kein Produkt, das bei der Bekämpfung einer akuten Cyberattacke helfen kann.
Gegen die Ex-Agenten O. und W., den inzwischen suspendierten Spitzendiplomaten sowie den FPÖ-Abgeordneten wird heute in Österreich ermittelt. Sie alle stehen im Zentrum eines Maulwurfskandals, der im Nachbarland aktuell wieder hohe Wellen schlägt – unter anderem, weil die Ex-Agenten im Auftrag von Marsalek immer wieder Informationen über Personen aus Geheimdienstdatenbanken beschafften, für die sich der Wirecard-Manager interessierte – etwa Mitarbeiter des Konzerns oder Geschäftspartner. Für O., der auch unter dem Decknamen „Giovanni Parmigiano“ agierte, interessierte sich vor einigen Jahren auch das deutsche BKA wegen möglicher Spionage für Russland.
Von Rintelen betont, er habe den Namen von O. erstmals von Journalisten und einem Politiker gehört. „Zu dem Mann hatte ich nie Kontakt.“ Bei dem Termin mit dem FPÖ-Abgeordneten sei er um eine Präsentation des Produkts SecurePIM gebeten worden: „Es folgte ein banaler Vertriebstermin – leider ohne das heutige Hintergrundwissen über den Politiker.“ Damals hatte Virtual Solution offenkundig ein großes geschäftliches Interesse, den österreichischen Markt zu erschließen. Zu einem Vertragsabschluss mit der dortigen Regierung kam es jedoch nicht. Doch warum engagierten sich Marsalek-Vertraute überhaupt für die Firma? Und warum erwähnte von Rintelen in einem der Chats den Namen „Stas“, unter dem jener häufig in der Münchner Villa weilende Ex-Kreml-Beamte bekannt war, der für Marsalek auch eine Reise mit russischen Militärs ins Bürgerkriegsland Syrien organisiert haben soll – wenn er nach eigener Aussage „keinen Stas“ kennt?
Zerwürfnis um Coronatest-Start-up
Aus den öffentlich gewordenen Chats im lockeren Duz-Ton ging zudem hervor, dass von Rintelen sich noch im Mai und Juni 2020 mit einem kleinen Kreis um Marsalek im Züricher Luxushotel Dolder verabredete – nur wenige Wochen vor dessen Flucht. Damals reiste Marsaleks enger Geschäftspartner Aleksandar V., der von Rintelen im Sommer 2018 erst mit dem Wirecard-Manager bekannt gemacht hatte und bei dessen Beteiligungsfirma Marsalek hinter den Kulissen massiv mitmischte, mit Marsalek und dessen Assistentin nach Zürich, um dort einen Schweizer Steuerberater zu treffen. Auf die Dienste dieses Experten für Firmen- und Treuhandkonstruktionen nach Schweizer Recht setzt auch von Rintelen bei seinen Unternehmen – etwa als Verwaltungsrat jener Holding, über die er seine Anteile an Virtual Solution hielt. Von Rintelen bestätigt, dass er V. seinen Berater empfohlen hat. V. habe vorgegeben, ein eigenes Family Office in der Schweiz aufbauen zu wolen, und ihn um Rat gefragt. Auch bei dem Verkauf von Virtual Solution an Materna war der Steuerberater involviert, wie ein Gruppenfoto in der Pressemitteilung zeigt.

Bei der Reise von Marsalek, V. und der Assistentin Ende Mai 2020 nach Zürich ging es mutmaßlich auch um ein Investment bei dem Start-up Digid, das einen neuartigen Corona-Schnelltest entwickelte. Damals informierte Marsaleks Kompagnon V. den Wahl-Schweizer von Rintelen vorab über die Tour, man stehe nach der Ankunft am späten Sonntagnachmittag auch für „Abendprogramm“ bereit. Von Rintelen solle „eine Suite oder so“ für „Jan“ buchen. Am nächsten Morgen dann „Termin mit dir“ und dem gemeinsamen Steuerberater, schrieb der Marsalek-Partner an von Rintelen.
Der Investor erklärt dazu, bei dem verabredeten Termin habe es keinerlei gemeinsames Abendprogramm gegeben. Er habe nur V. allein am Montagvormittag für 20 Minuten auf der Hotelterrasse getroffen. Dabei habe V. von der Firma Digid berichtet. Als Marsalek hinzu kam, sei er gegangen. Der Wirecard-Manager und V. hätten einen Termin „mit einem Dritten“ gehabt. Anfang Juni, als V., Marsalek und die Assistentin erneut nach Zürich fuhren, planten sie laut den Chats kurzfristig ein Treffen mit von Rintelen im gleichen Hotel. Jedoch verpassten sie sich dann aufgrund anderer Termine, es kam zu keinem Treffen.
Bei Digital Diagnostics, kurz Digid, handelt es sich um ein sehr spannendes Unternehmen – zumindest im Wirecard-Kontext. Größere Anteilseigner der Mainzer Firma waren erst der Gesundheitskonzern Lifecare aus Norwegen und als Mehrheitseigner jene in der Münchner Villa ansässige Beteiligungsfirma von V., über die Marsalek sein – wohl auch aus dem Wirecard-Konzern geschleustes – Geld in diverse Start-ups investierte. Nach Recherchen des „Handelsblatt“-Journalisten und Wirecard-Buchautors Felix Holtermann bestand zwischen Marsalek und V. ein geheimer Treuhandvertrag, der dem Wirecard-Manager einen Anteil von 75 Prozent an jener Beteiligungsfirma zusprach. Dieser Vertrag sei jedoch nirgendwo hinterlegt gewesen, in offiziellen Dokumenten war V. als Alleineigentümer vermerkt.
Digid wollte zu Beginn der Corona-Krise, als noch keine Schnelltests breit verfügbar waren, einen revolutionären Fünf-Minuten-Antigentest auf Nanotechnologiebasis entwickeln. Einige träumten deshalb vom ganz großen Geschäft, etwa auch in den USA. Für Digid als Berater tätig war damals nach neuen Capital-Recherchen auch ein weiterer Marsalek-Bekannter: ein anderer Ex-FPÖ-Abgeordneter, der dem Wirecard-Vorstand nach dem Auffliegen des Bilanzschwindels am 18. Juni 2020 zusammen mit Ex-BVT-Agent W. bei der Flucht geholfen haben soll, indem er für ihn den Privatjet für die Ausreise nach Minsk organisierte. Der Ex-Parlamentarier der rechtslastigen FPÖ stand zuvor im Zentrum einer Affäre um einen Mandatskauf durch einen ukrainischen Oligarchen. 2021 wurde er wegen schweren Betrugs in einem anderen Fall zu einer Haftstrafe verurteilt. Von Rintelen versichert, er habe nie Kontakt mit dem FPÖ-Mann gehabt: „Seine Beratung für Digid fand auf operativer Ebene statt. Ich selbst hatte davon weder Kenntnis noch Kontakt zu ihm.“
Bei der Firma Digid, deren Chef ein langjähriger Bekannter von ihm ist, war von Rintelen nach eigenen Angaben im April 2020 eingestiegen, weil er auf deren innovative Technologie im Kampf gegen die Pandemie setzte. Dafür kaufte er dem CEO im April einen Anteil von rund sechs Prozent ab. Kurz zuvor hatte V. den Anteil seiner Münchner Beteiligungsfirma an eine mithilfe des seitens von Rintelen empfohlenen Steuerberaters neu gegründete Firma in der Schweiz übertragen. Nachdem Miteigner V. dann ab Mitte 2020 wiederholt hohe Millionenzusagen an Digid nicht einhielt, stockte von Rintelen seinen Anteil im September 2020 auf mehr als 20 Prozent auf und übernahm den Aufsichtsratsvorsitz. Später kam es dann zu einem heftigen Zerwürfnis zwischen von Rintelen und V., der im Herbst 2020 zeitweise auch in Untersuchungshaft saß. Der Streit drehte sich es um mutmaßlich kriminelle Geschäftspraktiken von V. bei Digid zulasten seiner Mitinvestoren. So versuchte V., über eine für den außerbörslichen Handel zugelassenen US-Firma, Zugriff auf Digid zu bekommen – etwa auch mithilfe von Falschinformationen an den Kapitalmarkt.
Auch zwischen den einstigen engen Kompagnons V. und Marsalek kam es im Sommer 2020, nachdem der Wirecard-Manager schon auf der Flucht war, zum Bruch, wie Chats aus jener Zeit dokumentieren. Auch hier ging es um die Investments, möglicherweise auch bei Digid. Heute wirft die Münchner Staatsanwaltschaft V. Geldwäsche in 26 besonders schweren Fällen und weitere Delikte vor. Kurz vor Weihnachten erhoben die Strafverfolger Anklage gegen ihn – die erste überhaupt im gesamten Wirecard-Komplex. In dem Verfahren gegen V., in dem auch ein mit Marsalek verbandelter libyscher Ex-Geheimdienstchef eine Rolle spielte, wurde von Rintelen von den Ermittlern als Zeuge angehört. Digid wiederum ging im Frühjahr 2021 Pleite. An die Technologie glaubt der Investor aber weiter. Ein neuer Eigner, der die Firma aus der Insolvenz kaufte, will sie zur Marktreife bringen.
Entlastung von den eigenen Anwälten
Parallel verteidigt sich von Rintelen bis heute vehement gegen die aus seiner Sicht von V. aus Rache gestreuten „Falschbehauptungen“, er habe ein näheres Verhältnis zu dem mutmaßlichen Mastermind des Wirecard-Bilanzbetrugs gehabt. Um die Berichte über die Chats – vor allem im „Spiegel“, in dem österreichischen Onlineportal „ZackZack“ und Capital – zu widerlegen, beauftragte er im Dezember zwei für ihn tätige Anwaltskanzleien in Deutschland und der Schweiz mit einer Untersuchung. Darüber hinaus gewährte er der Münchner Wirtschaftsprüfungskanzlei Schaetze Einblick in seine Vermögensverhältnisse, um mögliche wirtschaftliche Verbindungen mit Marsalek zu untersuchen.
Das klare Ergebnis der Untersuchungen seiner Anwälte: Es gebe „keine Hinweise“ auf ein „abgesprochenes, koordiniertes gleichgerichtetes Handeln oder Vorgehen“ zwischen von Rintelen und Marsalek, auch nicht auf „geleistete Zahlungen oder einen Austausch von Gütern oder Wertsachen“ zwischen Virtual Solution und Wirecard oder Repräsentanten der beiden Unternehmen. Deshalb bestehe auch kein „Näherverhältnis“ im Rechtssinne zwischen von Rintelen und Marsalek. Der Investor habe etwa nie direkt mit Marsalek kommuniziert oder über dessen Telefonnummer verfügt.
Allerdings stützen von Rintelens Anwälte ihre Schlussfolgerungen zur Frage eines möglichen persönlichen „Näheverhältnisses“ zwischen ihrem Mandanten und Marsalek sowie Ex-Agent W. ausweislich ihrer Berichte ausschließlich auf Chats und andere Kommunikation, die sie von dem Investor selbst angefordert haben, sowie auf dessen Aussagen. Zudem haben die Anwälte nur die Kommunikation aus einem bestimmten Zeitraum untersucht: So lagen etwa keinerlei Chats aus 2018 vor – also jenem Jahr, in dem von Rintelen Marsalek in dessen Villa traf, um über Geschäfte mit Wirecard zu verhandeln. Dafür aber Chats mit Marsaleks mutmaßlichem Fluchthelfer W., mit dem von Rintelen bis mindestens Juli 2020 in Kontakt stand, als dieser von ihm noch eine aktuelle Firmenpräsentation über Virtual Solution anforderte. Damals wurde Marsalek schon weltweit gesucht.
Dagegen sprach der Wirtschaftsprüfer, der im Auftrag von Rintelens mögliche wirtschaftliche Beziehungen untersuchen sollte und solche Verbindungen in seinem Bericht ausschloss, immerhin mit Mitarbeitern von Virtual Solution und ließ sich Belege von Banken und Vermögensverwaltern vorlegen. Allerdings prüfte er die konkreten Transaktionen von Digid-Anteilen, an denen auch von Rintelen beteiligt war, nicht näher – obwohl innerhalb weniger Monate große Anteilspakete durch verschiedene Hände gingen: von Marsalek, der über den geheimen Treuhandvertrag zuerst den Mehrheitsanteil der Beteiligungsfirma von V. an Digid faktisch kontrollierte, über die eigene Schweizer Firma von V. bis zu von Rintelens Family Office. Mit Blick auf die mittlerweile bekannte Schattenrolle Marsaleks bei den Investments von V. würde eine solche Prüfung sinnvoll oder gar nötig erscheinen – womöglich auch um Hinweise zu finden, warum der Wirecard-Manager noch kurz vor seiner Flucht gemeinsam mit V. in Zürich einen Schweizer Steuer- und Treuhandexperten traf.
Welche Rolle spielte diese ganze, mitunter wilde Vorgeschichte für den jetzt bekannt gegebenen Verkauf von Virtual Solution? Und war womöglich auch die Bundesregierung an der Transaktion ihres wichtigen Sicherheitsdienstleisters beteiligt, um das Thema Wirecard vom Tisch zu bekommen? Klären lassen sich diese Fragen nicht. Nach eigener Darstellung beauftragte von Rintelen bereits im September 2020 eine Investmentbank, um den Verkaufsprozess einzuleiten. Nach Darstellung des Käufers Materna wurde die Option, Virtual Solution zu kaufen, im Mai 2021 über einen M&A-Berater an das Unternehmen herangetragen – also kurz nachdem Virtual Solution im Wirecard-Ausschuss zum Thema wurde. Demnach kam es im Juni 2021 erstmals zu einem Austausch auf Managementebene über eine mögliche Kooperation. Der „Wirtschaftswoche“ sagte Materna-Chef Martin Wibbe, die Verbindung zu Wirecard habe für den Käufer „keine Rolle gespielt“. Ein bereits verabredeter Interviewtermin mit Capital, den Materna vor der Bekanntgabe des Kaufs über eine PR-Agentur anbieten ließ, wurde dagegen wohl auf Wunsch von Materna ohne Angabe von Gründen wieder abgesagt – ein äußerst ungewöhnlicher Vorgang.
Der ehemalige Bundestagsabgeordnete De Masi, der im April als erster auf die Verbindungen zu dem Marsalek-Netzwerk aufmerksam machte, sagte jetzt zu dem Verkauf: „Ich persönlich habe den Eindruck, dass sich Herr von Rintelen aus der Schusslinie nehmen will. Seine geschäftliche Anbahnung mit Marsalek und der Kontakt zu dessen Fluchthelfer W. werfen weiterhin viele Fragen auf – auch an die Bundesregierung.“ Geklärt werden müsse etwa auch, ob es bei den Kontakten nach Österreich nur um geschäftliche Interessen ging – und warum Investor von Rintelen sein Unternehmen nun verkauft hat.