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Exklusiv Münchner Ermittler sicherten schon 2015 Marsaleks E-Mails

Behörden weltweit suchen nach dem früheren Wirecard-Manager Jan Marsalek - auch Zielfahnder des Polizeipräsidiums München
Behörden weltweit suchen nach dem früheren Wirecard-Manager Jan Marsalek - auch Zielfahnder des Polizeipräsidiums München
© dpa
Jahre vor der Wirecard-Pleite lieferten US-Strafverfolger konkrete Hinweise auf verbotene Geschäfte mit Online-Glücksspielanbietern in den USA. Fahnder beschlagnahmten die Mail-Postfächer mehrerer Topmanager und weitere Daten. Doch die Razzia blieb folgenlos

Münchner Ermittler haben schon Anfang Dezember 2015 die E-Mails von Ex-Wirecard-Vorstand Jan Marsalek und weiteren Konzernmanagern beschlagnahmt. Das geht aus dem Protokoll einer Durchsuchung in der Wirecard-Zentrale hervor, das Capital vorliegt. Demnach sicherten Kriminalbeamte umfangreiche aktuelle und archivierte E-Mail-Kommunikation sowie Daten zu Kreditkartentransaktionen von Wirecard-Kunden. Betroffen waren neben dem heute flüchtigen Marsalek sechs weitere Mitarbeiter des Zahlungsdienstleisters, darunter Marsaleks damalige Assistentin sowie eine Managerin, die heute als eine wichtige Helferin bei dem im Sommer 2020 bekannt gewordenen milliardenschweren Bilanzbetrug bei Wirecard gilt. Die Durchsuchung in Aschheim begann am Vormittag des 1. Dezember 2015 und erstreckte sich über zwei Tage. Unklar ist, was anschließend mit dem beschlagnahmten Material geschah.

Bereits bekannt war, dass es am 1. Dezember eine Razzia bei Wirecard gegeben hat und dass diese auf ein Rechtshilfeersuchen der US-Behörden zurückging. Bislang unbekannte Verfahrensakten, die Capital vorliegen, geben jetzt Einblicke in die Hintergründe und Details. Demnach hatten Strafverfolger aus New York im Rahmen von Geldwäsche-Ermittlungen auch den deutschen Zahlungsdienstleister im Visier. Nach den Erkenntnissen der US-Fahnder soll Wirecard über seine damalige Tochter Click2Pay – ein Tool für Transaktionen im Internet – in großem Stil Zahlungen für illegale Online-Glücksspielanbieter in den USA abgewickelt haben. Allein zwischen 2007 und Anfang 2010 soll es um verbotene Transaktionen in Höhe von mindestens 1,5 Mrd. Dollar gegangen sein. In ihrem Rechtshilfeersuchen baten die Amerikaner die deutschen Behörden, umfangreiche Kommunikation der verantwortlichen Wirecard-Manager sowie Daten zu Kreditkarten-Transaktionen an rund 20 Glücksspiel- und Wettanbieter sicherzustellen.

Strafanzeige schon im Jahr 2010

Die neue Capital erscheint am 20. Januar
Die neue Capital erscheint am 20. Januar

Schon in den Jahren zuvor waren auch in Deutschland immer wieder Vorwürfe laut geworden, dass der Wirecard-Konzern einen großen Teil seines Gewinns Dienstleistungen für Pokerwebsites und andere Glücksspielanbieter im Internet verdanke. Diese waren in den USA 2006 verboten worden. Entsprechende Hinweise hatte etwa auch der Wirecard-kritische Investor Tobias Bosler im Frühjahr 2010 in einer unter Pseudonym eingereichten Strafanzeige an die Staatsanwaltschaft München I übermittelt und darüber auch die Finanzaufsicht Bafin informiert.

Daraufhin leiteten die Münchner Strafverfolger ein Verfahren gegen Unbekannt ein, das sie 2012 aber mangels Tatnachweisen einstellten. Letztlich dauerte es bis kurz vor dem Zusammenbruch im Juni 2020, bis die Münchner Staatsanwälte bei Wirecard mit aller Härte durchgriffen. Ex-Vorstand Marsalek tauchte kurz vor der Pleite unter, nach ihm wird weltweit gefahndet. Bis März wird die Anklage der Münchner Staatsanwaltschaft zu den zentralen Punkten des Wirecard-Skandals erwartet – allen voran gegen den langjährigen Konzernchef Markus Braun, der bis heute seine Unschuld beteuert.

Wie aus den Akten hervor geht, begann eine Polizeihauptkommissarin im Kriminalfachdezernat 3 des Münchner Polizeipräsidiums im Juli 2015 auf Basis der Hinweise aus dem Rechtshilfeersuchen der US-Behörden Ermittlungen zu der Wirecard-Tochter Click2Pay. Als Beschuldigte führte sie zunächst Marsalek und die Wirecard-Chefjuristin, die als Geschäftsführer und Prokuristin bei der Firma eingetragen waren. Später kamen auch noch zwei weitere Click2Pay-Verantwortliche hinzu. Der Tatvorwurf: Beihilfe zur unerlaubten Veranstaltung eines Glücksspiels. Dazu eröffnete ein Staatsanwalt der Staatsanwaltschaft München I ein Vorermittlungsverfahren.

Bei ihren Ermittlungen stießen die Fahnder in bayerischen Polizeiregistern auf rund 200 Vorgänge mit Bezug zu Click2Pay – die auffallend häufig mit Online-Glücksspiel zu tun hatten. Click2Pay werde „offensichtlich vom Mutterkonzern überwiegend angeboten, damit Kunden damit auf Glücksspielplattformen Zahlungen leisten können“, hielt die leitende Kriminalbeamtin im August in einem Vermerk an den zuständigen Staatsanwalt fest. Darin regte sie auch eine Durchsuchung bei Click2Pay an. Da kein einziger Onlinepoker-Anbieter in Deutschland über eine Erlaubnis verfüge, leiste die Firma Beihilfe zur Veranstaltung von unerlaubtem Glücksspiel. Die Verantwortlichen handelten gewerbsmäßig, weil sie „ihren Lebensunterhalt damit verdienen“. Für die gewerbsmäßige Veranstaltung eines illegalen Glücksspiel sieht das Strafgesetzbuch bis zu fünf Jahre Haft vor.

Am 16. September 2015 verfügte der zuständige Staatsanwalt dann jedoch, die Vorermittlungen mangels Anfangsverdachts einzustellen. Ein Bezug zu deutschem Strafrecht sei „derzeit nicht mit dem für weitere Ermittlungen erforderlichen Verdachtsgrad gegeben“, notierte er in seiner Verfügung. Zudem sei Click2Pay seit 2014 nicht mehr aktiv.

Schon wenige Wochen später beantragten die Strafverfolger dann allerdings im Rechtshilfeverfahren für die US-Behörden beim Amtsgericht München die ersten Durchsuchungsbeschlüsse. Laut Dokumenten aus dem Verfahren erließ ein Ermittlungsrichter am Amtsgericht am 30. Oktober, 25. November und 1. Dezember 2015 insgesamt neun Durchsuchungsbeschlüsse für verschiedene Konzernteile und Geschäftsräume von Wirecard. Auf dieser Grundlage kam es dann zu der Razzia in Aschheim, bei der die Fahnder umfangreiche Kommunikation von Wirecard-Managern und Daten von Kreditkartentransaktionen sicherten. Ausweislich des Durchsuchungsprotokolls verweigerten die Vertreter des Konzerns dabei ihre Kooperation mit den Beamten. Daher mussten die Fahnder das Material beschlagnahmen.

Nach der Razzia ging Wirecard gegen die Durchsuchungsbeschlüsse vor. Unter anderem verlangte ein Anwalt des Konzerns in einer Beschwerde an das Oberlandesgericht München, die Richter sollten feststellen, dass die Leistung von Rechtshilfe in diesem Fall „unzulässig“ sei. Bis zu einer gerichtlichen Klärung werde einer Herausgabe der Unterlagen an die US-Behörden „explizit widersprochen“, schrieb der Anwalt einer auf Glücksspielrecht spezialisierten Kanzlei, die für Wirecard tätig war. Daraus folgte offenbar ein langwieriges Verfahren, in dem es ein Tauziehen um Akteneinsicht für die Beschuldigten der US-Ermittlungen gab. Nach Angaben des bayerischen Justizministeriums zogen die Amerikaner im September 2018 schließlich ihr Rechtshilfeersuchen zurück, weil sie vertrauliche Dokumente gegenüber Wirecard nicht offenlegen wollten.

„Keine neuen Erkenntnisse“

Was aus dem bei der Razzia im Dezember 2015 beschlagnahmten Material wurde und ob dieses für die Strafverfolger verwertbar war, lässt sich heute nicht abschließend klären. Auf Anfrage verwies die Münchner Staatsanwaltschaft darauf, dass sie sich grundsätzlich nicht zu Rechtshilfeverfahren ausländischer Behörden äußern dürfe. Zu dem im September 2015 eingestellten eigenen Verfahren wegen Beihilfe zu unerlaubtem Glücksspiel gegen Marsalek und weitere Manager erklärt sie, dass „die Vorgänge“ noch bis Mai 2017 „weiter beobachtet“ worden seien. Es habe jedoch keine neuen Erkenntnisse gegeben, die einen Anfangsverdacht rechtfertigt hätten. „Es bestand also kein Grund, dieses oder gar das Verfahren aus 2012 wieder aufzunehmen“, betonte die Anklagebehörde.

Nur wenige Wochen nach der Razzia, ab Ende Februar 2016, veröffentlichten Leerverkäufer unter dem Namen Zatarra mehrere Berichte im Internet, in denen sie Wirecard kriminelle Geschäfte vorwarfen. Einer der Zatarra-Reports beschrieb auch ausführlich die Bedeutung von Click2Pay als zentrales Zahlungstool für die Pokerwebsite Full Tilt Poker – einer der Anbieter, die auch im Rechtshilfeersuchen der US-Behörden genannt worden waren und zu denen die Münchner Ermittler bei der Razzia Unterlagen sicherstellen sollten. Nach der Veröffentlichung der Zatarra-Berichte eröffnete die Münchner Staatsanwaltschaft auf Basis einer Strafanzeige der Finanzaufsicht ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts auf Marktmanipulation – gegen die Autoren und mehrere Investoren, die auf sinkende Wirecard-Kurse gewettet hatten.

Auch aus heutiger Sicht habe es im Zusammenhang mit den damaligen Vorwürfen gegen Wirecard keinerlei Ermittlungsfehler gegeben habe, erklärte die Staatsanwaltschaft. Dagegen sagte Wirecard-Kritiker Bosler: „Das Verrückte ist ja, dass es in dem Rechtshilfeersuchen genau um den Sachverhalt geht, den ich bereits im Frühjahr 2010 angezeigt habe“. Es sei „absolut unverständlich, warum die Staatsanwaltschaft nicht spätestens 2015 erneut ermittelt hat. Mir ist und bleibt das alles ein Rätsel.“

Die ausführliche Geschichte über die Ermittlungen amerikanischer und deutscher Behörden zur Rolle von Wirecard im Glücksspielbereich erscheint in der neuen Ausgabe von Capital, die am 20. Januar in den Handel kommt. Interesse an Capital? Hier geht es zum Abo-Shop, wo Sie die Print-Ausgabe bestellen können. Unsere Digital-Ausgabe gibt es beiiTunesund GooglePlay.

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