Marc Liebscher ist Anwalt und Kapitalmarktexperte bei der Berliner Kanzlei Dr. Späth & Partner. In Kooperation mit der Kanzlei Schirp & Partner vertritt er mehrere Tausend Wirecard-Aktionäre bei Klagen gegen den Wirtschaftsprüfer EY.
CAPITAL: Sie haben regelmäßig Verhandlungstermine beim Landgericht München I, das die Klagen gegen EY im Fall Wirecard bislang abgewiesen hat. Sind Sie überrascht über die Kritik des Oberlandesgerichts München an den Entscheidungen des Landgerichts?
Marc Liebscher: Der Beschluss ist in seiner Direktheit überraschend, im Inhalt ist er für uns nicht überraschend. Wir waren immer von unseren Argumenten überzeugt und verwundert, dass mehrere Kammern des Landgerichts diese so geschlossen zurückgewiesen haben. Deshalb freut uns, dass das Oberlandesgericht nun so harsche Kritik übt und unserer Linie folgt.
Richter äußern Kritik an Kollegen normalerweise sehr diplomatisch. Wie bewerten Sie den Beschluss des Oberlandesgerichts?
Auf Bayerisch formuliert ist die Entscheidung eine Watschn für das Landgericht, und zwar auf beide Backen links und rechts. Faktisch attestiert das OLG dem Landgericht, dass es Grundaufgaben, die ein Gericht erfüllen muss, nicht erfüllt hat.
Was wirft das OLG dem Landgericht konkret vor?
In seinem Beschluss sagt das OLG sehr deutlich, dass sich das Landgericht viel zu oberflächlich mit dem Fall befasst hat. Konkret hätten die Richter einen Sachverständigen bestellen sollen, um zu untersuchen, ob die Abschlussprüfer von EY vorsätzlich gehandelt haben, indem sie Auffälligkeiten bei Wirecard ignoriert haben. Heftig ist die Feststellung des OLG, dass die Richterinnen und Richter am Landgericht „gehörswidrig“ zum Nachteil der klagenden Anleger entschieden haben. Im Kern ist das der Vorwurf einer Grundrechtsverletzung.
Was heißt das genau?
Das Gebot rechtlichen Gehörs verpflichtet das Gericht dazu, den wesentlichen Kern der Argumentation beider Prozessseiten zu erfassen. Das OLG ist der Auffassung, dass die Kläger keine Chance hatten, in dem Verfahren mit ihren Argumente vom Gericht gehört zu werden. Das ist ein klarer Hinweis, dass hier fundamentale rechtsstaatliche Grundsätze verletzt wurden. Darauf haben wir in unseren Verfahren immer wieder hingewiesen. Doch neun Kammern mit insgesamt 27 Richterinnen und Richtern am Landgericht München haben sich mit unseren Argumenten nicht auseinandergesetzt. Jetzt müssen sie sich vom OLG vorwerfen lassen, sie hätten unter Verstoß gegen Rechtsstaatsgrundsätze entschieden. Dieses Versagen des Landgerichts passt in die Linie staatlichen Versagens bei Wirecard. Desto wichtiger ist das frühe Einschreiten des OLG.
Warum konnten die geschädigten Anleger mit ihren Argumente denn bisher nicht punkten?
Das Landgericht war zwar immer der Ansicht, dass wir in unseren Klagen den Streitstoff gegen EY am Besten aufgearbeitet hätten. Aber dafür konnten sich unsere Mandanten bislang nichts kaufen. Denn die Richter haben stets verlangt, dass Kläger im Detail darlegen müssen, dass sie nur auf Grundlage der Testate von EY Wirecard-Aktien gekauft haben. Das zu beweisen ist für Anleger natürlich schwierig, weshalb die allermeisten Klagen abgewiesen wurden, ohne dass sich das Gericht überhaupt mit konkreten Verfehlungen von EY beschäftigt hat. Allerdings handelte es sich dabei nach unserer Überzeugung von Anfang an um eine völlig lebensfremde Annahme, die jetzt endlich auch das OLG kritisiert. Denn es ist ja klar: Wenn Wirecard wegen eines verweigerten Testats schon früher in die Insolvenz gefallen wäre, dann hätten die Anleger auch nicht mehr investiert. Auch dieses Argument haben wir von Anfang an vorgetragen. Es wurde bisher aber einfach vom Tisch gewischt.
Aus Sicht der geschädigten Anleger ist die entscheidende Frage: Haben sie nun bessere Aussichten auf Schadenersatzansprüche gegen EY?
Die Aussichten für geschädigte Wirecard-Aktionäre haben sich nach unserer Überzeugung dramatisch verbessert. Bei den bisherigen Entscheidungen des Landgerichts war auch das Problem, dass die Richter standardmäßig verneint haben, dass die Prüfer von EY vorsätzlich gehandelt und die Anleger damit geschädigt hätten. Daran bemängelt das OLG nun, dass ein möglicher Vorsatz vom Landgericht gar nicht ausreichend geprüft wurde. Bei der Prüfung wird nun sicherlich auch der Bericht des vom Wirecard-Untersuchungsausschuss beauftragten Sonderermittlers Martin Wambach oder die Strafanzeige der Aufsichtsbehörde APAS gegen Prüfer von EY eine zentrale Rolle spielen. Aus unserer Sicht liefern beide eindeutige Hinweise auf vorsätzliche Verstöße von EY.
Wie geht es bei den Klagen jetzt weiter?
Wir setzen darauf, dass das Landgericht die Verfahren jetzt von einem zutreffenden Blickwinkel aus beurteilt und sich endlich mit unseren Argumenten in der Sache auseinandersetzt.
Das Oberlandesgericht verweist auch auf die Möglichkeit eines Musterverfahrens, um die zahlreichen Klagen gegen EY zu bündeln. Wäre das für die Anleger eine gute Option, um schneller zu einer Entscheidung zu kommen?
Wir hoffen sehr, dass es nicht zu einem Verfahren nach dem Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz kommt. Das wäre für die Anleger extrem nachteilig, weil diese Verfahren in der Regel absurd lange dauern, teilweise mehr als zehn Jahre. Im Musterverfahren bei der Deutschen Telekom beispielsweise sind die ersten Kläger schon verstorben, bevor überhaupt ein Urteil ergangen ist. Das ist dysfunktional.

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