In Deutschland droht eine Rezession, in China stockt die Konjunktur, die USA hoffen so gerade noch auf eine „weiche Landung“. In dieser eher prekären Lage kommt nun auch noch ein Faktor hinzu, der für die Weltwirtschaft fast immer eine entscheidende Rolle spielt: Die Ölpreise steigen seit dem Sommer mit ordentlichem Tempo. Der Preis für ein Barrel (159 Liter) der Referenzsorte Brent nähert sich 95 Dollar und hat damit einen Anstieg von etwa 30 Prozent seit Ende Juni hingelegt. Die Analysten der Investmentbank Goldman Sachs gehen sogar davon aus, dass die Preise noch weiter steigen werden und demnächst die gern als psychologisch wichtig betrachtete Schwelle von 100 Dollar pro Barrel überschreiten werden.
Was ist der Grund? Zum einen ist die Nachfrage in diesem Jahr deutlich stärker ausgefallen als viele Beobachter angesichts der konjunkturellen Lage angenommen hatten. „Wir sehen, dass der Transportsektor besser vorankommt als die Wirtschaft insgesamt“, sagt Daan Struyven, Ölexperte im Research-Team von Goldman Sachs in seinem Podcast. Da der Transport einer der wichtigsten Treiber der Ölnachfrage ist, fiel der Bedarf höher aus. Im ersten echten Nicht-Corona-Sommer seit der Pandemie wurde mehr gereist, mehr geflogen, mehr gefahren – in einem Umfang, den so kaum jemand erwartet hatte.
Die Opec treibt den Preis hoch
Diese stärkere Nachfrage wiederum stieß auf ein sinkendes Angebot: Saudi-Arabien und damit die Organisation Erdöl exportierender Staaten (Opec) hatten sich schon früh auf Förderkürzungen festgelegt, weil sie die Volkswirtschaften in den großen Industrieländern im Abschwung sahen. Bis jetzt halten die Saudis an dieser Sichtweise fest, obwohl die Lage in den USA inzwischen besser aussieht. Es gehe nicht darum, „die Preise hochzutreiben“, sagte der saudische Energieminister Abdulaziz bin Salman Mitte September auf einem Branchenkongress im kanadischen Calgary. Stattdessen seien die Konjunkturdaten noch nicht belastbar. „Es ist immer noch nicht klar, was beim Wachstum in Europa geschehen wird“, so bin Salman. „Und es ist auch noch nicht klar, wie sich die US-Wirtschaft entwickelt.“
Hinzu kommt, dass im Gleichschritt mit der Opec auch Russland seine Förderung einschränkte, was dem ganzen Prozess erst richtig Wucht verlieh. Eigentlich war angenommen worden, dass Russland ein Interesse an möglichst hohen Ausfuhrmengen haben würde, da das Land ja mit dem Ölpreisdeckel der Europäischen Union sanktioniert wird: Transportunternehmen und Versicherer dürfen danach russische Ölexporte nur dann übernehmen, wenn deren Preis die Marke von 60 Dollar pro Barrel nicht überschreitet. Allerdings ist es Russland offenbar gelungen, diesen Preisdeckel nach anfänglichen Schwierigkeiten immer erfolgreicher zu umgehen: Wie die Financial Times berichtet, werden inzwischen drei Viertel aller russischen Öl-Ausfuhren auf dem Seeweg ohne die Unterstützung westlicherer Versicherer abgewickelt. Das erlaubt es Russland, sein Öl zu Preisen oberhalb des Deckels zu verkaufen und damit auch flexibler mit der Förderung umzugehen.
Ende der Fahnenstange?
Die Lage wird noch dadurch erschwert, dass Russland vergangene Woche den Export von Benzin und Diesel per Dekret vorübergehend einschränkte – also von bereits verarbeiteten Erdölprodukten. Als offiziellen Grund gab die Regierung an, es gehe darum, die Versorgung zu sichern und die Bevölkerung vor höheren Preisen zu bewahren. Ein wichtiger Grund dürfte allerdings auch sein, dass Russlands Militär beim Angriff auf die Ukraine dringend auf Treibstoffzufuhr angewiesen ist – ein Bedarf, der sich angesichts der laufenden ukrainischen Gegenoffensive eher noch verstärken dürfte.
Für die Weltwirtschaft verheißt das alles nichts Gutes. Oft wird darauf hingewiesen, dass die Weltwirtschaftskrise von 2008 an Fahrt aufnahm, als die Ölpreise ein Allzeithoch von 147 Dollar erreichten. „In einem ansonsten gleich bleibenden Umfeld bedeuten höhere Ölpreise eine höhere Inflation“, sagt Goldman Sachs-Experte Struyven. Nicht nur der Transport, auch Lebensmittelpreise und Kosten für Produktionsgüter reagieren empfindlich auf steigende Ölpreise.
Allerdings verweist Struyven auch auf Faktoren, die einem Preisanstieg über die Marke von 105 Dollar hinaus eher entgegen stehen. Zum einen hat ein steigender Ölpreis auch eine sich selbst schwächende Wirkung – irgendwann wird die Nachfrage abflachen. Zum anderen gibt es immer noch die amerikanische Schieferölindustrie, die vergleichsweise flexibel auf Preisschwankungen reagieren kann und die in den vergangenen Jahren oft als zusätzlicher Preissetzer außerhalb der Opec einsprang.
Und dann gibt es da noch die Prognose der Internationalen Energieagentur (IEA), die unlängst vorhersagte, dass die Welt noch in diesem Jahrzehnt die Spitze der Nachfrage nach Erdöl erreichen werde – zumindest im Transportsektor. Von da an wäre es also ein Rückzugsgefecht, für die Opec, aber auch für Russland. In der aktuellen Lage aber ist das für die westlichen Volkswirtschaften nur ein schwacher Trost.