Ökonomische Prognosen sind derzeit schwerer denn je. Zu komplex ist die Entwicklung der Pandemie selbst, zu spärlich sind bislang noch die vorliegenden ökonomische Indikatoren, zu wenig historische Referenzpunkte haben wir für diese Krise. Im ersten Quartal des Jahres, dem ersten Quartal in dem die Corona-Krise wütete, sank die deutsche Wirtschaftsleistung um 2,2 Prozent. Zum Vergleich: In Italien, Frankreich und Spanien waren es etwa 5 Prozent. In China waren es durch den früher beginnenden Shutdown sogar knapp sieben Prozent – was dem deutschen Autosektor im ersten Quartal enorm zu schaffen machte. Das schlimmere Quartal wird in Europa aber ohnehin das zweite sein: Hier rechnet das Ifo-Institut allein in Deutschland mit einem Shutdown-bedingten Einbruch von rund 12 Prozent.
Doch was kommt danach, wenn Stück für Stück in vielen Ländern die Lockerungen einsetzen? Das ist die große Frage, die in uns in den kommenden Wochen und Monaten begleiten wird.
Dabei bewegen wir uns weiter in mehreren Szenarien, welche Form die Rezession annehmen könnte. Ein Update zu den wichigsten vier Varianten:
Szenario 1: V-Rezession
Das optimistischste Szenario: Die Rezessionskurve verläuft in der Form eines Vs. Dies war die Art der Rezession, die wir vor zehn Jahren bei der Lehmann Krise erlebt haben. In diesem Fall würde die Rezession vermutlich drei, vielleicht vier Quartale dauern. Also ein drastischer Einbruch des BIP von Q1 bis Q3 oder auch Q4. Auf den starken Shutdown-bedingten Schock würde noch in diesem Jahr, vielleicht schon im Spätsommer oder Herbst, eine ebenso kräftige Erholung einsetzen , dank staatlicher Konjunkturhilfen, nachgeholtem Konsum, Investitionen und anderen Nachholeffekte. Das BIP für das Gesamtjahr 2020 würde am Ende trotzdem negativ sein – was dann in der historischen Datenreihe für das klar erkennbare V sorgen würde. Die Erholung könnte sogar – nicht zuletzt aufgrund der gigantischen Rettungspakete – ähnlich historisch spektakulär ausfallen wie der kurz zuvor erlebte Einbruch. Allerdings: Das wird nur möglich sein, wenn größere Mengen an Insolvenzen und Massenentlassungen dank der staatlichen Rettungspakete ausbleiben.
Was dagegen spricht: Wie man nun sieht, wird der Lockdown in den meisten Ländern nur schrittweise aufgelockert. Damit zieht sich die Belastung für die Weltwirtschaft insgesamt weiter in die Länge. Hinzu kommt, dass nicht alle Regionen gleichzeitig aus dem Lockdown herauskommen - und so mögen in ein paar Wochen zwar weite Teile Asiens und Europas langsam wieder zurück zu (einer neuen) Normalität gekehrt sein. In den USA könnte es aber rumpeliger werden, mit Komplikationen durch ein chaotisches Krisenmanagement. Auch die Produktion könnte durch die globale Verflechtung der Lieferketten weiterhin behindert werden. Und die neue Normalität könnte noch lange Zeit deutlich weniger Konsum, Reisen etc. bedeuten als vorher. Einige Experten warnen zudem, dass die größte Katastrophe der Epidemie noch vor uns liegen könnte - wenn sie Schwellenländer in Südamerika, Nahost und Afrika mit noch größerer Wucht erfassen sollte. Brasilien zum Beispiel entwickelt sich derzeit zum nächsten Epizentrum. Afrika schlägt sich bislang in Teilen noch ebenso wie Indien erstaunlich gut, allerdings mit großen regionalen Unterschieden und enormen Abwärtsrisiken.
Szenario 2: W-Rezession
Ein Szenario, das eine Art Zwischenvariante darstellt, könnte eine Rezession mit W-Verlauf oder in Form eines Wurzelzeichens sein – der so genannte Double Dip. Das Szenario hier: Es gibt recht schnell eine Erholung, aber dann stagniert die Wirtschaft wieder oder bricht erneut ein – zum Beispiel weil es erneute Shutdowns im Herbst aufgrund eines Wiederaufflammens des Pandemie gibt. Daher ist es so wichtig, dass die virologische Suppressions-Strategie der jetzigen Shutdowns auch wirklich wirkt und Lockerungen nicht zu überhastet stattfinden – dieser eine Schuss muss sitzen.
Szenario 3: U-Rezession
In diesem Fall droht eine längere Phase der Krise bevor es zu einer nur langsam an Fahrt gewinnenden Erholung kommt - und zwar nicht vor 2021. Die Rezesssionskurve hätte dann die Form eines U. Dafür könnte es verschiedene Ursachen geben: Vornehmlich natürlich lang währende Belastungen durch die Epidemie. Eine weitere Ursache: Systemische Wirtschaftsprobleme die zeitverzögert als längerfristige Folge des Shutdown-Schocks entstehen. Zum Beispiel, weil die Rettungspakete nicht wie gewünscht greifen – und das zu sich selbst verstärkenden Kräften der Rezession führt, einer Spirale nach unten: Firmen gehen reihenweise insolvent, immer mehr Menschen werden entlassen, dadurch sinkt der Konsum immer weiter, neue Branchen werden erfasst, neue Entlassungen folgen und so weiter.
Besonders die USA, ohne die ausgeprägten sozialen Sicherungssysteme wie in Europa, mit einer bereits dramatischen, historisch nie dagewesenen Welle von Massenentlassungen sind hier besonders gefährdet. Doch auch in Südeuropa droht Ungemach: Nicht nur in Italien, auch in Spanien und Frankreich dürfte die Arbeitslosigkeit massiv steigen, allein schon aufgrund des einbrechenden, wichtigen Tourismus-Sektors in diesen Ländern bei den erwarteten Corona-bedingten Ausfällen in diesem Sommer. All das könnte dann recht schnell zu Verwerfungen im Finanzsektor führen, zu einer neuen Bankenkrise – zum Beispiel durch große Mengen an Insolvenzen und Kreditausfällen.
Es könnte auch zu einer neuen Staatsschuldenkrise kommen. Durch die Retttungspakete zur Abmilderung des Shutdown-Schocks werden die Staatsschulden massiv steigen, das steht bereits fest. Das könnte dazu führen, dass hieraus mittelfristig eine separate Krise entsteht, die die wirtschaftliche Misere in die Länge zieht. In der Lehman-Krise war es ähnlich: Auf die unmittelbare Finanzkrise 2008/2009, in der der Bankensektor mit Staatsmitteln gerettet werden musste, folgte mit einiger Verzögerung die Eurokrise, die ab 2010 an Intensität gewann. Natürlich wird auch bereits über die Eurozone und den Euro spekuliert, wenn Italiens Wirtschaft nun als besonders betroffenes Land gerettet werden muss und die Staatsschulden dort untragbar werden. Es könnte zu Schuldenschnitten kommen, wie zum Beispiel der renommierte Wirtschaftshistoriker Harold James im Capital-Interview prognostiziert .
Möglicherweise drohen solche systemischen Folgekrisen diesmal aber nicht in Europa, sondern anderen Regionen der Welt. Experten warnen schon jetzt vor dem Risiko einer größeren Schwellenländer-Krise. Entsprechende fragile Bruchstellen gibt es genug. Viele Schwellenländer gelten als enorm verwundbar. Eine Reihe von ihnen hat gefährlich hohe Auslandsschulden in Fremdwährungen, die ihnen bereits jetzt zu schaffen machen. Das führte bereits 1998 zur Asien-Krise.
Was dagegen spricht: Theoretisch kann eine solche Eskalationsspirale durch ein schnelles Abflachen der Epidemie und die richtige Reaktion von Regierungen und Notenbanken abgewendet werden. Doch oft kommen Finanzkrisen aus einer Richtung, die man gerade nicht erwartet. Der Ökonom Nassim Taleb hat hier den Begriff des Black Swan geprägt. Die Corona-Pandemie selbst war ein solcher „Black Swan“. Und auch eine daraus folgende, spätere Finanzkrise kann diesem Muster folgen. So sollte man hier sogar China im Blick haben. Das mag jetzt manch einen überraschen, aber schon seit langer Zeit schwelt dort ein Schuldenproblem . Das Land sitzt auf großen Mengen an faulen Krediten, Zombie-Firmen und hochverschuldeten Kommunalregierungen. Manche Ökonomen verglichen dies bereits lange vor der Corona-Krise mit in einem gigantischen Schneeballsystem, das nur durch weiteres Wachstum am Laufen gehalten werden kann. Versiegt das Wachstum, könnte das Ganze in sich zusammenbrechen oder in eine Stagnation absinken. Ob es nun China ist oder eine andere Region - globale Rezessionen wie jetzt können solche fundamentalen Fragilitäten zu offenen Wunden machen und einzelne Regionen oder Staaten in Schieflage bringen. Sollte dies mit einer großen Wirtschaftsregion wie China passieren, droht ein weit schlimmerer Verlauf der Rezession.
Szenario 4: L-Rezession
Ein L-Verlauf wäre das Worst-Case-Szenario. Hier würden wir uns in eine langanhaltende Depression über mehrere Jahre hinein bewegen. Weil die Pandemie sich über eine sehr lange Zeit absolut nicht in den Griff bekommen lässt. Oder weil eine oder mehrere der wichtigsten Wirtschaftsregionen in eine systemische Wirtschaftskrise geraten, wie zuvor beschrieben. Zum Beispiel die USA, die durch Massenarbeitslosigkeit in eine tiefe Abwärtsspirale gerät. Oder – das wäre wohl wirklich das absolute Horrorszenario – die lange schwelende Schuldenkrise in China bricht vollends aus und die 30 Jahre anhaltende China-Wachstumsstory nimmt ein jähes Ende. Die Wirtschaftsleistung in Ländern wie China, USA oder Deutschland könnte um bis zu 20 Prozent einbrechen. Der bekannte Wirtschaftshistoriker Barry Eichengreen, einer der renommiertesten Experten für die Weltwirtschaftskrise, warnte im Interview mit Capital bereits, es könnte sogar schlimmer als 1929 werden. Ähnlich äußerte sich der amerikanische Star-Ökonom Ken Rogoff gegenüber Capital.
Was dagegen spricht: Man muss ganz deutlich betonen - hier müsste wirklich sehr viel zusammenkommen, quasi alles schief gehen. Zwar lässt sich das Szenario nicht komplett ausschließen, Stand heute. Aber die meisten Ökonomen sehen diese Variante als eher unwahrscheinlich an, halten derzeit eher ein V- oder einen U-Verlauf für naheliegend. Viele Regierungen haben schnell und mit gewaltigen Rettungspaketen reagiert, die Notenbanken reagieren undogmatisch und letztlich kommt die Krise nicht aus dem Wirtschaftssystem selbst. Nimmt der Belastungsfaktor Corona, die Ursache der Krise, ab, könnte es auch entsprechend schnell zu Erholungsdynamiken kommen.
Krise ohne Beispiel
Unterm Strich gilt: Welche Abzweigung die Wirtschaft tatsächlich nimmt, welches dieser Szenarien eintrifft, lässt sich derzeit noch nicht sagen. Wir haben es mit einer Situation zu tun, die historisch relativ präzedenzlos ist aus ökonomischer Sicht: Eine Wirtschaftskrise, die nicht aus dem Wirtschaftssystem selbst heraus entstanden ist - anders als andere Rezessionen wie die Weltwirtschaftskrise, die Ölkrise oder die Lehman-Krise. Der Auslöser: ein externer Faktor, der kein Krieg ist, sondern eine neuartige Pandemie in Zeiten enormer globaler Verflechtungen. Wie ungewöhnlich dies ist, betonte auch Nobelpreisträger Robert Shiller gegenüber Capital. Hier fehlen Ökonomen schlichtweg historische Referenzpunkte. Und noch fehlen uns genug belastbare Zahlen am aktuellen Rand. Vor allem drei Faktoren dürften aber in den kommenden Wochen und Monaten darüber entscheiden, welche Abzweigung die Wirtschaft nimmt:
- Erstens – das ist offensichtlich – der weitere Verlauf der Pandemie selbst: Wie schnell bekommen wir sie medizinisch in den Griff? In welchem Tempo erfolgen die Lockerungen? Kommt eine zweite Welle (oder viele kleine Wellen) nach dem Exit – und damit erneute Shutdowns später im Jahr? Wann gibt es einen Impfstoff? Vergleicht man die Szenarien von McKinsey, dem Sachverständigenrat, dem Ifo-Institut oder dem Kieler IfW-Institut – so hängen die Rezessionsszenarien (Stand April) sehr stark von der Länge des Shutdowns ab. Ein V- und ein U-Verlauf sind hier überall die Hauptszenarien. Bei einem Shutdown von 1,5 bis 2 Monaten landeten die meisten noch bei einem V. Ein U wäre das Ergebnis von einem längeren Shutdown von drei Monaten oder mehr.
- Zweitens: Gelingt es den Staaten, die wirtschaftlichen Folgen den Shutdowns möglichst gut abzumildern und so eine eskalierende Negativspirale aus Massenentlassungen und Insolvenzen zu verhindern? Hier sind Instrumente wie die Kurzarbeit oder die Hilfen für Klein- und Kleinstunternehmen extrem entscheidend – aber nicht nur in der Ankündigung, sondern auch in der Umsetzung: Wie schnell kommt das Soforthilfe-Geld tatsächlich auf die Konten? Wie groß sind die bürokratischen Hürden für Kredite? In Italien, USA oder Großbritannien zum Beispiel lief die Auszahlung der Mittel bei weitem nicht so schnell wie in Deutschland. Einige Firmen oder Arbeitslose warten immer noch auf ihr Geld. Das kann aus einem V ein U machen, wenn es ganz schlecht läuft.
- Drittens: Wie massiv fallen die mittelfristigen systemischen Verwerfungen im Finanzsektor oder bei den Staatsschulden aus? Was tun die Staaten, um diese tieferen Folgekrisen aus der Ursprungs-Corona-Krise zu verhindern? Ein Thema, das speziell für die Eurozone gilt – und nach dem jüngsten EZB-Urteil des Verfassungsgerichts in Karlsruhe aktueller denn je ist.
In allen drei Fällen spielt das Krisenmanagement der Staaten eine entscheidende Rolle. Auf den Regierungen der Welt lastet in dieser Krise einmal mehr eine unglaubliche Verantwortung. Und sie bewegen sich dabei vorerst weiter auf absolut unbekanntem Terrain.