Finnland hat in der Pandemie das geschafft, worum viele Länder ringen: Das nordische Land hat die Infektionszahlen vergleichsweise niedrig gehalten – und gleichzeitig nur einen geringen Wirtschaftseinbruch verzeichnet.
Gerade einmal rund 29.000 Corona-Fälle gab es bislang in Finnland – in Deutschland war das zuletzt die Zahl der täglichen Neuinfektionen. Nun ist die finnische Bevölkerung mit gerade einmal 5,5 Millionen Menschen deutlich kleiner als die deutsche. Doch auch mit Blick auf die Infektionsrate pro 100.000 Einwohner ist Finnland einer der Spitzenreiter: Mit 108,8 Infektionen pro 100.000 Einwohner verzeichnet Finnland laut dem Europäischen Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) nach Irland die geringste Infektionsrate aller EU-Länder. Die Todesrate im Zusammenhang mit Covid-19 ist in Finnland so niedrig wie in keinem anderen EU-Land.
Doch Finnland ist nicht nur bei der Eindämmung der Pandemie erfolgreich: Auch die Wirtschaft des skandinavischen Landes zeigt sich bislang vergleichsweise stabil. Im zweiten Quartal – während der ersten Welle der Corona-Pandemie in Europa – verzeichnete Finnland den geringsten wirtschaftlichen Einbruch aller EU-Länder. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ging lediglich um 4,4 Prozent zurück, während es im Durchschnitt aller EU-Länder einen Rückgang um ganze 11,6 Prozent gab . In Deutschland waren es 9,8 Prozent.
Früher Lockdown als Erfolgsrezept
Vielerorts wird debattiert, was in der Corona-Krise Priorität haben soll: die Infektionen einzudämmen oder die Wirtschaft am Laufen zu halten. Das Beispiel Finnland scheint zu zeigen, dass es kein „Entweder-Oder“ in der Pandemie geben muss – kein „Wirtschaft oder Gesundheit“. Für den finnischen Erfolg gibt es mehrere Gründe: Zum einen scheint die Strategie der finnischen Regierung um Ministerpräsidentin Sanna Marin aufzugehen. Im Frühjahr, als es in Finnland noch vergleichsweise wenige Infektionen gab, reagierte die Regierung schnell. Die Region um die Hauptstadt Helsinki, also ein stark bevölkertes Gebiet, ging in einen zweimonatigen Lockdown. Reisen in die und aus der Region wurden verboten, Schulen waren geschlossen, zeitweise auch Restaurants.
Markku Lehmus, Leiter der Prognose-Abteilung am unabhängigen finnischen Wirtschaftsforschungsinstitut ETLA, hält diesen frühen Lockdown für einen entscheidenden Faktor in der finnischen Krisenbewältigung. „Wir haben aus dieser Krise gelernt, dass es effektiver ist, wenn man diese Art von Lockdown früh verhängt und dass er dann auch nicht so hart sein muss“, sagt er. In Finnland seien zwar Restaurants und Schulen zeitweise geschlossen gewesen, aber es habe keine Ausgangsbeschränkungen gegeben. Die Strategie habe geholfen, die Pandemie unter Kontrolle zu bringen. „Und der Lockdown war nicht allzu teuer für die finnische Wirtschaft“, sagt der Ökonom.

Hinzu kommt: Die finnische Regierung kann sich bei ihrer Corona-Politik einer breiten Zustimmung der Bevölkerung sicher sein. Laut Daten des EU-Parlaments stehen 67 Prozent der Finnen ihrer Regierung generell unterstützend gegenüber. Das ist nach Luxemburg der höchste Wert in der EU. Sogar noch höher liegt mit 71 Prozent der Anteil der Finnen, die zufrieden mit den Maßnahmen sind, die ihre Regierung getroffen hat.
Auch die geografischen Bedingungen dürften allerdings ein wichtiger Grund dafür sein, dass die Finnen die Pandemie bislang vergleichsweise gut unter Kontrolle haben: Finnland hat die niedrigste Bevölkerungsdichte in der gesamten EU: Auf einen Quadratkilometer kommen im Durchschnitt nur rund 18 Einwohner – in Deutschland sind es rund 235. Mehr als ein Zehntel der finnischen Bevölkerung lebt in der Hauptstadt Helsinki.
Und auch die finnische Kultur scheint gut für die Krisenbewältigung zu sein: „Social Distancing“ sei für viele Finnen natürlich, sagt Lehmus. Ein Stereotyp, das in vielen Witzen über Finnen eine Rolle spielt. „Aber tatsächlich fällt es uns leichter, Abstand zu halten und diese Regeln einzuhalten.“
Wirtschaftsstruktur weniger anfällig
Die vergleichsweise geringen Infektionszahlen, die nach dem frühen Lockdown weniger starke Einschränkungen erforderten, dürften auch der finnischen Wirtschaft geholfen haben. Doch es gibt weitere Gründe, warum das finnische BIP nur vergleichsweise wenig unter der Pandemie gelitten hat. Einen dieser Gründe sieht Lehmus in der Struktur der finnischen Volkswirtschaft: „Die finnische Wirtschaft ist nicht so stark vom Dienstleistungssektor abhängig und insbesondere nicht von den Bereichen des Dienstleistungssektors, die soziale Kontakte erfordern“, sagt der Ökonom. „Unsere Wirtschaft hängt eher von der Industrie ab.“
Laut Weltbank macht die Industrie in Finnland 38 Prozent des BIP aus, der Dienstleistungssektor 60,3 Prozent und die Landwirtschaft rund zwei Prozent. Die Struktur ist damit ähnlich wie die deutsche. Starke Unterschiede gibt es hingegen im Vergleich mit Frankreich und den USA, die jeweils mehr als 70 Prozent ihres BIP aus dem Dienstleistungssektor generieren.
Die Erholung der finnischen Wirtschaft im dritten Quartal sei infolge des geringeren Einbruchs ebenfalls auch geringer ausgefallen als in anderen EU-Ländern, sagt Lehmus: „Es scheint, dass sich viele Dienstleistungen im dritten Quartal erholen konnten, jedoch nicht alle. Der Sektor der Hotellerie und des Gastgewerbes leidet noch immer“. Die Industrie habe sich dagegen schnell wieder erholen können, und der Informations- und Kommunikationssektor habe im dritten Quartal sogar etwas zugelegt.
Doch die Erholung in der Industrie betrifft nicht alle Bereiche: Der Holz- und Papierindustrie gehe es schlecht, sagt Lehmus. Insgesamt geht er davon aus, dass das vierte Quartal angesichts der steigenden Infektionszahlen auch für Finnland schwierig wird. Er gehe von einem leichten Rückgang oder einer Stagnation des BIP aus – einen großen Einbruch erwarte er aber nicht.
Arbeitsmarkt vergleichsweise stabil
Finanziell scheint die Corona-Krise in Finnland bislang deutlich weniger Menschen getroffen zu haben als in anderen EU-Ländern. In einer Umfrage des EU-Parlaments geben nur 21 Prozent der befragten Finnen an, dass die Corona-Krise ihr persönliches Einkommen betroffen hat. EU-weit gaben das hingegen fast doppelt so viele Menschen an (39 Prozent). 41 Prozent der Finnen gehen gar davon aus, dass Corona auch in Zukunft keinen Einfluss auf ihr Einkommen haben wird. „Der Arbeitsmarkt war nicht allzu stark betroffen“, sagt Lehmus. „Die Arbeitslosigkeit ist zwar angestiegen, aber nur bis zu einem gewissen Punkt.“
Auch das Sozialversicherungs- und Wohlfahrtssystem habe geholfen. „Es ermutigt die Menschen, zu denken, dass sie auch durch diese schwierigen Zeiten kommen können.“ Für in Not geratene Firmen gab es von der finnischen Regierung Unterstützung: „Die staatlichen Subventionen waren hier wohl der wichtigste Faktor“, sagt Lehmus. Zudem habe es Steuererleichterungen und vermehrte öffentliche Investitionen, vor allem in den Gesundheitssektor, gegeben.
Digitalisierung als Vorteil in der Krise
Ein weiterer Faktor, der Finnland in der Corona-Krise zugute kam: Das Land gilt in der EU als Vorreiter in Sachen Digitalisierung . Im Digital Economy and Society Index (DESI) der EU belegte Finnland zuletzt den ersten Platz und lag in allen untersuchten fünf Bereichen – Humankapital, Nutzung von Internet-Diensten, Integration der digitalen Technologie und digitale öffentliche Dienste – deutlich über dem EU-Durchschnitt. So dürfte es Finnland vergleichsweise leicht gefallen sein, viele Tätigkeiten ins Digitale zu verlagern.
Digitale Technologie spielt in Finnland entsprechend auch eine große Rolle bei der Bewältigung der Krise. Fast die Hälfte der Bevölkerung hat die finnische Corona-App installiert. Die Akzeptanz der App ist damit deutlich höher als zum Beispiel bei ihrem Gegenstück in Deutschland.
Zur Wahrheit gehört auch: Auch in Finnland steigen die Infektionszahlen wieder. Und auch in Finnland gelten weiter gewisse Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie. So sind Versammlungen begrenzt – je nach Region mit unterschiedlichen Obergrenzen – und Gastronomiebetriebe haben eingeschränkte Öffnungszeiten. Zudem dürfen Touristen derzeit nicht nach Finnland reisen. „Ich mache mir zwar sorgen, aber gleichzeitig glaube ich, dass wir das bewältigen können, weil wir es schon im Frühjahr bewältigt haben“, sagt Lehmus.

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