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Gastbeitrag Stakeholder-Kapitalismus: Die Welt muss an den Entscheidertisch

Flaggen vor dem Uno-Hauptquartier in New York
Flaggen vor dem Uno-Hauptquartier in New York
© IMAGO / imagebroker
Will die Welt die Covid-Pandemie hinter sich lassen, muss sie einen Neustart in den internationalen Beziehungen hinbekommen. Dazu müssen alle gesellschaftlich relevanten Stakeholder an einen Tisch

Eine neue Covid-Charta, ein neues Bretton Woods, neue Messgrößen für das Wirtschaftswachstum: So wie der Zweite Weltkrieg die Vereinten Nationen und die Europäische Union hervorgebracht haben, müssen wir jetzt, aus der Pandemie heraus, ebenfalls den Quantensprung wagen, hinein in ein nachhaltiges System. Betrachtet man die Gesamtheit der globalen Probleme, ist schnell klar: Will der Mensch überleben, muss er Frieden mit der Erde schließen. Aber dafür müssen alle relevanten Stakeholder der Gesellschaft zur Lösungsfindung an den Entscheidertisch.

Beginnen wir mit einer ehrlichen Bekämpfung von Covid-19

Sibylle Barden
Sibylle Barden

„Wenn wir nicht die ganze Welt impfen, wie wir es sollten, wird Covid-19 zurückkommen, um uns zu verfolgen, und es wird zurückkommen, um uns zu verletzen“, sagt EZB-Präsidentin Christine Lagarde im „Time“-Gespräch mit Klaus Schwab, dem Gründer und Executive Chairman des World Economic Forums. Dieser hat im Sommer 2020 die Welt zum „Großen Neustart“ aufgerufen, um ein grünes und faires Sozial- und Gesellschaftssystem zu schaffen – für Mensch und Planet. „Wir haben bisher 6000 Mrd. Dollar zur fiskalischen Bekämpfung der Pandemie ausgegeben – was benötigt wird, ist ein Prozent davon, um die Welt zu impfen“, sagt Lagarde und fragt: „Warum kann die gesamte Weltgemeinschaft nicht 50 Mrd. Dollar aufbringen, um die Impfung in den Ländern der Welt umzusetzen?“ Wenn die Grande Dame der internationalen Finanzpolitik schockiert ist über diesen Zustand, wie ohnmächtig sind dann Sie und ich? Dabei ist die Lösung greifbar.

Zehn reiche Länder teilen sich 87 Prozent des Impfstoffes. Achim Steiner, Leiter des UN-Entwicklungsprogramms: „Wir hatten mit Covax seit Beginn der Pandemie ein effektives Krisenbekämpfungsprogramm, welches den weltweit gleichmäßigen und gerechten Zugang zu Covid-19-Impfstoffen gewährleistet hätte.“ Die Ausübung versagte am nationalen Egoismus. Man zog es in den Hauptstädten vieler Mitgliedsländer vor, ausschließlich sich selbst zu retten und Covax die finanziellen Mittel zu verweigern. Hier liegt der Schlüssel: Zivilbevölkerung, Wirtschaft und Wissenschaft müssen gemeinsam Druck auf ihre Regierungen ausüben, um Covax zu stärken.

Egoismus ist zu teuer

9 Billionen Dollar, also 9000 Milliarden, das ist der finanzielle Schaden für die gesamte Welt, der sich aus diesem nationalen Egoismus heraus ergibt, errechnete die Internationale Handelskammer ICC. Wo Covid-19 nicht behoben wird, kann sich auch keine Wirtschaft erholen, geschweige, ein faires System für alle entstehen.

Ziehen wir internationale Statistiken heran, um die Auswirkungen unseres Handelns besser einzuordnen: 2021 vermelden die UN den Verlust von mehr als 255 Millionen Vollzeitjobs, die durch die Pandemie entstanden sind, wobei Frauen und Jugendliche am stärksten betroffen sind. 257 Millionen Menschen sind neu in die Armut abgerutscht. Laut Unicef sind eine Milliarde Kinder einem „extrem hohen Risiko“ ausgesetzt, an den Auswirkungen der Klimakrise zu leiden. 40 Prozent der globalen Bevölkerung hat keinen Zugang zu sauberem und sicherem Trinkwasser, so der Weltbiodiversitätsrat.

Von den geschätzt acht Millionen Tier- und Pflanzenarten weltweit, ist etwa eine Million vom Aussterben bedroht. Gleichzeitig ist der globale Handel mit Plastik um 40 Prozent angestiegen, meldet Unctad. Das ist das Ergebnis, wenn nur eine übersichtliche Gruppe am Entscheidertisch sitzt und die betroffenen Stakeholder der Weltgemeinschaft keine Stimme haben. Mensch und Planet werden Teil des Menüs.

Wir brauchen eine neue Covid-Charta

Wenn sich nach dem Zweiten Weltkrieg (bis heute) 193 Mitgliedstaaten zur UN-Charta, dem Gründungsvertrag der Vereinten Nationen bekennen konnten, um den Schutz des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit zu wahren, können wir das heute auch. Die Weltgemeinschaft braucht eine viel stärkere Stimme, so auch ihre Institutionen. Den kollektiven Willen zur Zusammenarbeit, um Mensch und Planet zu retten, in einer neuen Covid-Charta zu verankern, wäre ein guter Start.

Bisher bekommt die Weltbevölkerung durch zig Filter gesagt, dass nicht genügend Ressourcen zur Verfügung stehen, um ihre Probleme zu lösen – ob es sich dabei um die Rettung des Klimas, des Trinkwassers oder die Luft zum Atmen handelt. Das ist schlichtweg die Unwahrheit. Finanzen sind nicht das Problem. Lösungen sind auch nicht das Problem. Die gibt es überall. Was fehlt, ist der politische Wille zur Zusammenarbeit. Daran scheitert die Umsetzung.

Ein neues Bretton Woods

Natürlich kann die Welt bis 2030 eine Milliarde Menschen aus der Armut befreien – wenn sie das will. Oder das Klima retten. Rajiv Shah, Präsident der Rockefeller Stiftung, sieht einen wichtigen Hebel dafür in der Erneuerung der Währungsordnung: „Wir brauchen ein neues Bretton Woods.“ Multilaterale Entwicklungsbanken, wie die Weltbank, müssen einen viel größeren Beitrag leisten. „Die können weit mehr Kredite vergeben, wenn man es ihnen erlaubt. Diese Banken könnten neue Kredite in Höhe von bis zu 1 Billion US-Dollar freisetzen und gleichzeitig ihr AAA-Rating beibehalten. Das würde ihnen ermöglichen, ihren Mitgliedsländern Kredite zu vernünftigeren Bedingungen zu gewähren.“

Zurück zu den betroffenen Stakeholdern: Geld ist vorhanden. Lösungen auch. Beides muss eingefordert werden von den Regierungen, den Finanzministern der G20.

Ein neuer wirtschaftlicher Kompass muss her

Und der Schulden-Tsunami? Die globale Verschuldung liegt, so der Weltbankenverband IIF, bei 277 Billionen Dollar. Das entspricht 365 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der gesamten Weltwirtschaft. Eine Summe, die niemand mehr in der Lage ist, abzutragen. Warum also nicht abschreiben? „Natürlich wäre ein Schuldenschnitt ratsam. Unsere ganze Art des Wirtschaftswachstums hat den Erdball an den äußersten Rand des Ruins geführt“, so Achim Steiner, der als UNDP-Chef die Umsetzung der 17 Nachhaltigkeitsziele verantwortet. „Wir müssen die Dominanz des Bruttosozialprodukts überwinden. Und brauchen dringend einen Paradigmenwechsel.“

Unser Wirtschafts- und Sozialsystem muss auf komplett neue Grundlagen gestellt werden. Dazu gehören auch das Neudenken von Lieferketten, die sich über mehrere Kontinente erstrecken, unsere Produktionsweise „just in time“, das gesellschaftliche Mantra „the winner takes it all” oder der Unternehmensfokus “the business of business is business”. Gebraucht wird ein neuer wirtschaftlicher Kompass.

Neue Messgrößen für Wohlstand

Klaus Schwab bietet einen nachhaltigen wirtschaftlichen Kompass in seinem Buch „Stakeholder Capitalism – A Global Economy that Works for Progress, People and Planet“. Dem Bruttoinlandsprodukt als Messgröße für das Wirtschaftswachstum einer Volkswirtschaft will er zusätzliche Metriken hinzufügen. „Eine schnelle Lösung wäre ein Maß einzuführen, wie das mittlere Pro-Kopf-Einkommen, das die wirtschaftlichen Bedingungen der realen Bevölkerung besser widerspiegelt. Eine ehrgeizigere Maßnahme wäre das Hinzufügen von Naturkapital, basierend auf dem Ökosystem, Fischbeständen, Mineralien und andere Naturgüter.“ Das Humankapital gehört natürlich in die Bilanz.

Diese Elemente, so Schwab, könnten alle in einem zusammengesetzten Scorecard enthalten sein. „Und ein ‚Climate Action Tracker‘ an den Dashboards der Regierungen, um die Fortschritte eines jeden Landes bei seinen nationalen Verpflichtungen im Rahmen des Pariser Abkommens anzuzeigen.“ Viele Unternehmen haben bereits mit den ESGs neue Metriken eingeführt, um ihre Berichtspflicht um die Bereiche Umwelt, Soziales und Unternehmensführung zu erweitern. Ein „Climate Action Tracker“ für Regierungen sollte keine Hürde sein.

Es geht nur gemeinsam

Neue Metriken für das Wirtschaftswachstum, ein neues Bretton Woods, eine neue Covid-Charta – es gibt sehr gute Lösungen für die Probleme unserer Zeit. Werden wir wieder mit Phrasen der Alternativlosigkeit konfrontiert, sollten wir Professor Schwab zitieren. Seit 50 Jahren ist er Vorkämpfer für das Stakeholder-Modell, das er über einen ebenso langen Zeitraum mit seinem World Economic Forum praktiziert: Von Blackrock bis Greta Thunberg hat hier jeder eine Stimme. Wir können auf die Vereinten Nationen verweisen, die mit Covax ein faires Impf-Krisenprogramm aktiviert haben, oder die Internationale Handelskammer, die dem nationalen Egoismus ein Preisschild von 9 Billionen Dollar verpasst hat.

Auch das Argument der Rockefeller Stiftung, dass die Bretton Woods-Institutionen bis zu 1 Billion Dollar freisetzen können, um ihren Mitgliedsländern zu helfen. Dabei würden sie nicht einmal ihre AAA-Bewertung verlieren. Die von mir angeführten Stakeholder sind per se einflussreich, aber auch sie können die Politik nur zur Rettung des Planeten bewegen, wenn die Weltgemeinschaft aktiv mitmacht. Am Entscheidertisch.

Sibylle Bardenist Publizistin, Board-Member und Keynote-Speaker für Sozioökonomie und Politik. Ihr Podcast „Der Große Neustart“, angelehnt an den „Great Reset“ des World Economic Forum, ist eine Plattform für Pioniere, die neue globale Standards setzen und die Welt auf ein besseres Sozial- und Wirtschaftssystem vorbereiten.

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