Der Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft gehört mit Sicherheit zu den deutschen Institutionen, die – zumindest anfänglich – vom russischen Angriff auf die Ukraine am härtesten getroffen wurden. Nach Jahren einer engen Zusammenarbeit mit Moskau, Unternehmerreisen in russische Regionen und Lobbyarbeit für die deutsch-russische Zusammenarbeit schien das alles plötzlich hinfällig zu sein. Russland, so der Eindruck, würde auf lange Zeit als Handelspartner ausfallen. Geschäfte mit einem Regime, das Kriegsverbrechen begeht und dem Westen mit Atomwaffen droht, ließen sich kaum noch rechtfertigen. Ganz abgesehen davon, dass die Europäische Union die Ausfuhr einer ganzen Reihe von Produkten aus ihren Mitgliedstaaten nach Russland ohnehin verboten hatte.
Cathrina Claas-Mühlhäuser, die neue Vorsitzende des Ost-Ausschusses, verkündete am Dienstag in Berlin denn auch, die „Entflechtung vom russischen Markt“ verlaufe in hohem Tempo. Und die Zahlen scheinen das zu bestätigen: Der deutsche Außenhandel mit Russland ging von Januar bis Juli 2023 um 76 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum zurück. Ein massiver Einbruch.
Allerdings ist das nicht die ganze Geschichte, und im Grunde fängt der andere Teil schon mit Claas-Mühlhäuser selbst an. Die 48-Jährige ist Aufsichtsratsvorsitzende und Gesellschafterin des Landmaschinenherstellers Claas. Und Claas gehört zu jenen Unternehmen, die ihre Zusammenarbeit mit Russland keineswegs eingestellt haben. Die US-Universität Yale, die über die Aktivitäten ausländischer Unternehmen in Wladimir Putins Reich seit Monaten genau Buch führt, notiert über Claas, das Unternehmen sei „nach wie vor in Russland operativ tätig“. Konzernchef Jan-Hendrik Mohr sagte in einem Interview Ende Juli, man werde weiterhin Erntemaschinen nach Russland liefern, ein Produkt, das, anders als Traktoren, von den Sanktionen ausgenommen ist.
Handel mit der Türkei legt massiv zu
Zudem spricht einiges dafür, dass inzwischen andere Länder eine Art Scharnierfunktion für den deutschen Russland-Handel übernommen haben. Während die Ausfuhren nach Russland massiv gesunken sind, stiegen die Exporte in Staaten wie Kasachstan, Belarus oder Armenien in zweistelligen Raten. „Die Länder in der russischen Nachbarschaft erleben eine Sonderkonjunktur“, sagt auch Claas-Mühlhäuser, der Zuwachs der Exporte in den Kaukasus und nach Zentralasien sei „eine gute Nachricht“. Beim Ost-Ausschuss weist man zwar darauf hin, dass die Exporte in diese Staaten in absoluten Zahlen deutlich unter dem liegen, was im Russlandgeschäft verloren geht. Allerdings stimmt diese Rechnung nur, wenn in ihr die Türkei nicht berücksichtigt wird, die nicht zu den vom Ost-Ausschuss betreuten Staaten gehört. Die deutschen Ausfuhren in die Türkei legten in den ersten sieben Monaten des Jahres um fast 26 Prozent zu, auf sehr hohem absoluten Niveau. Es ist der höchste Anstieg unter den 25 wichtigsten deutschen Handelspartnern.
Eric Dor, Wirtschaftswissenschaftler an der Katholischen Universität Lille, hat nachgewiesen, dass sich auch die Art der Ausfuhren aus der Europäischen Union in diese Anrainerstaaten weitgehend mit den ausgefallenen Exporten nach Russland deckt. Es geht um Waschmaschinen, Haushaltsgeräte und Elektronikartikel. „Wir haben starken Grund zu der Annahme, dass die von diesen Staaten aus der Europäischen Union eingeführten Produkte anschließend nach Russland reexportiert werden“, schreibt Dor in einer Analyse zur Umgehung der Exportbeschränkungen. Ein Verdacht, der im Ost-Ausschuss zurückgewiesen wird. „Vorschnelle Verurteilungen oder gar pauschale Sanktionen gegen Drittländer halten wir für nicht zielführend“, sagte die Vorsitzende Claas-Mühlhäuser.
Auch in anderer Hinsicht allerdings ist der deutsche Abschied von Russland nicht ganz so eindeutig, wie es auf den ersten Blick scheint. Nach Schätzung des Ost-Ausschusses ist der lokale Umsatz von in Russland aktiven deutschen Unternehmen seit dem Angriff auf die Ukraine um 65 Prozent gesunken. Allerdings sind vor allem große Konzerne wie Volkswagen oder Siemens vollständig gegangen, die ansonsten um ihr Geschäft in den USA hätten fürchten müssen. Zahlreichere mittelgroße Unternehmen sind laut Yale-Liste weiterhin aktiv. Belastbare Zahlen dazu gibt es auch beim Ost-Ausschuss nicht – aber es ist offenkundig, dass weiterhin kooperiert wird.
„Wir sehen immer kleinteiligere Sanktionsvorschriften“
Das Gremium wendet sich denn auch entschieden gegen Kritiker dieser Aktivitäten. „Wir beobachten mit Sorge, dass Unternehmen in eine Ecke gestellt werden, wenn sie noch in Russland tätig sind“, sagte Claas-Mühlhäuser. Wen genau sie damit meint, sagte die Vorsitzende nicht. Allerdings kommen vor allem aus der Ukraine immer wieder Hinweise auf einzelne Unternehmen und Branchen, die entweder von den Sanktionen ausgenommen sind oder sie unterlaufen. Eine internationale Experten-Gruppe, benannt nach Andrij Jermak, dem Leiter des ukrainischen Präsidialamts, legt fortwährend Vorschläge nach, wie die Sanktionen noch verschärft oder ihre Umsetzung verbessert werden könnte. Auch, weil die Fachleute vermuten, dass Elektronikbauteile, die für Militärgüter gebraucht werden, auf Umwegen ihren Weg nach Russland finden.
„Wir sehen immer kleinteiligere Sanktionsvorschriften“, sagte hingegen Claas-Mühlhäuser, die fordert, „nicht noch mehr obendrauf“ zu packen. So ganz trennen will man sich eben nicht von Russland in der deutschen Wirtschaft. Bei aller Entflechtung.