Es ist nicht so, dass der Krieg in der Ukraine und die westlichen Sanktionen gar keine Spuren in der russischen Wirtschaft hinterlassen hätten. Beispielsweise ist der Gasexport durch den weitgehenden Exportstopp nach Europa eingebrochen. Gazprom, jahrzehntelang verlässlicher Devisenbringer für den Kreml, hat gerade einen Rekordverlust gemeldet. Auch die Autoproduktion und andere Industriezweige leiden unter der Flucht ausländischer Hersteller. Doch der russischen Volkswirtschaft insgesamt machen diese Verluste kaum etwas aus. Sie verkraftet den Krieg nicht bloß – sie boomt teilweise wegen des Krieges. Manche Ökonomen warnen schon vor einer Überhitzung der Konjunktur.
Die Wirtschaftsleistung Russlands wuchs im vergangenen Jahr um 3,6 Prozent, in diesem könnten es Schätzungen zufolge gut 3 Prozent sein. Zurückzuführen ist das weitgehend auf die mit dem Krieg zusammenhängenden Branchen. So hat sich die Zahl der Rüstungsbetriebe seit Kriegsbeginn von weniger als 2000 auf inzwischen 6000 mehr als verdreifacht. In manchen Regionen wird von der Errichtung kompletter neuer Gewerbegebiete für die Rüstungsindustrie berichtet.
Die Branche beschäftigt offiziellen Zahlen zufolge inzwischen 3,5 Millionen Menschen, 500.000 mehr als noch zu Kriegsbeginn. Gleichzeitig sind die Gehälter kräftig gestiegen – in Medien ist die Rede von satten 20 bis 60 Prozent. Die Arbeitslosigkeit in Russland ist unterdessen auf ein Rekordtief von 2,8 Prozent gefallen.
„So kann eine Wirtschaft nicht wachsen“
Angeheizt wird der Boom von den staatlichen Rüstungsausgaben, die dieses Jahr auf umgerechnet über 100 Mrd. Euro steigen dürften. Mehr als das Doppelte des Vorkriegsjahres 2021. Das wären mehr als sechs Prozent der Wirtschaftsleistung. Experten schätzen aber, dass die tatsächlichen Gesamtausgaben für das russische Militär und den Krieg noch weit darüber liegen. Durch den damit entfachten Wirtschaftsboom mit steigender Beschäftigung und Einkommen fließt ein Teil dieses Geldes dank wachsender Steuereinnahmen wieder in die Staatskasse zurück.
Die Transformation Russlands zu einer Kriegswirtschaft sei inzwischen so weit fortgeschritten und wirke sich finanziell für große Teile der Bevölkerung so positiv aus, dass es für Russlands Präsident Wladimir Putin schwierig werde, aus dem Krieg auszusteigen, warnt die Ökonomin Elina Ribakowa in der „Financial Times“. Die Hoffnung zu Beginn des Krieges, die Sanktionen könnten durch eine Schwächung der Wirtschaft Putin zum Frieden zwingen, habe sich in das Gegenteil verkehrt: Die russische Wirtschaft sei abhängig vom Krieg geworden. Im Falle eines Friedens drohe ihr dagegen eine „harte Landung“ mit steigender Arbeitslosigkeit und sinkendem Wohlstand.
Andere Ökonomen weisen allerdings darauf hin, dass das gegenwärtige Wachstum auch bei einer längeren Dauer des Krieges nicht nachhaltig sei. Die Wirtschaft sei überhitzt, sagt der Wirtschaftswissenschaftler Ruben Enikolopow dem „Guardian“. „Die Wirtschaft läuft gegenwärtig über ihrem Potenzial, sie erschöpft alle Ressourcen, sowohl Arbeitskraft als auch Kapital.“ In einigen Branchen werden Arbeitskräfte bereits knapp. „So kann eine Wirtschaft nicht wachsen“, warnt Enikolopow. „Einige Unternehmen werden bald nicht mehr weitermachen können.“
Der Artikel ist zuerst bei ntv.de erschienen. Das Nachrichtenportal gehört wie Capital zu RTL Deutschland.