Die britische Nordsee ist aufgeteilt wie eine Schrebergartenkolonie. Doch in den 258 Parzellen kultivieren die Pächter keine Seegurken oder lassen die Seele ins Meerwasser baumeln. Sie fördern Öl und Gas. 1970 wurde das erste Ölfeld entdeckt, fünf Jahre später begann die Förderung. Heute sind vier dieser Sektoren mit einer täglichen Gesamtkapazität von 1,4 Millionen Barrel erschlossen. Zur Hochphase der britischen Ölförderung trug das Nordseeöl sieben Prozent zum gesamten Bruttoinlandsprodukt bei.
Doch das ist lange vorbei. 2050 will die UK bei „net zero“ sein, also klimaneutral. Ab 2030 sollen keine Verbrennerautos mehr zugelassen werden. Und zuletzt forderte die linke Oppositionspartei Labour sogar ein Verbot für neue Lizenzen zur Öl- und Gasförderung in der Nordsee. Diese Stimmen hat Premierminister Rishi Sunak nun abgewürgt. Am Montag verkündete er, dass die konservative Tory-Regierung über 100 neue Förderungslizenzen ausgeben will. Eine klimapolitische Kehrtwende.
Maxing Out Policy und Carbon Capture
Rishi Sunak hofft, so viel Öl und Gas wie möglich aus der Nordsee fördern zu können. Er verfolgt damit eine „maxing out policy“, die nach Ansicht von Umweltaktivisten die Klimaschutzverpflichtungen des Vereinigten Königreichs revidieren würde. Sunak hingegen sagt, die heimische Versorgung sei wesentlich effizienter als der Import von Öl und Gas aus anderen Ländern und der Schritt stehe „voll und ganz im Einklang mit unserem Plan, net zero zu erreichen“.
Das Ziel, ihre Treibhausgasemissionen auf null zu reduzieren, will Großbritannien mit „Carbon Capture“ erreichen. Dabei werden Kohlendioxidemissionen von industriellen Prozessen „abgeschieden“. Dieser Kohlenstoff wird dann von seinem Entstehungsort per Schiff oder in einer Pipeline abtransportiert und tief unter der Erde in geologischen Formationen gespeichert.
Sinken die europäischen Energiepreise?
Beeinflusst die Neuausrichtung der britischen Energiewirtschaft die europäischen Energiepreise? „Solange die Briten noch in der EU waren, hatten sie eine Vorreiterrolle beim Klimaschutz“, sagt Franziska Holz, die am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) zu Energie, Verkehr und Umwelt forscht. Dazu habe gehört, weniger Öl zu verbrauchen, aber auch weniger Öl zu fördern. „Das stellt Rishi Sunak jetzt infrage.“
Die Ausgabe neuer Förderlizenzen habe somit Signalwirkung. „Ich glaube, die neu erschlossenen Mengen werden nicht die Wirkung haben, dass mit einem niedrigeren Ölpreis zu rechnen ist.“ Vielmehr wolle Sunak damit im vergangenen Jahr abgebaute Vorkommen ersetzen. Die Produktion werde sich wohl nicht erhöhen. Es gebe auch keine Überkapazitäten, die exportiert werden könnten. „Aber es kommt eben auch nicht zu einem Rückgang, den wir ja eigentlich anstreben.“
Offshore-Windparks abgesagt, Carbon Capture propagiert
Gleichzeitig würden auch immer mehr Offshore-Windpark-Projekte abgesagt, gerade in Großbritannien. Dies sei sehr beunruhigend, so die Expertin. Funktioniert Carbon Capture als Korrektur für den neuen Kurs? „Das sehe ich sehr kritisch. Wir reden seit Anfang der 2000er über Carbon Capture. Also seit über 20 Jahren. Aber wir haben nirgendwo eine bestehende Anlage.“ Diese Strategie sei typisch für fossile Nationen. Dass Sunak Carbon Capture – oder kurz CCS – aktuell derart propagiert, sei ein Zeichen für die Abkehr von erneuerbaren Energien.
Im Herbst soll der Ausschreibungsprozess für die neuen Lizenzen beginnen. Das Genehmigungsverfahren, das von der North Sea Transition Authority überwacht wird, beinhaltet eine Klimaverträglichkeitsprüfung, bietet aber mehr Flexibilität als bisher, um nach Reserven in der Nähe der derzeit genehmigten Gebiete zu bohren.