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Kommentar Die Phantasien deutscher Energiepolitik

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) steht vor der in Kanada für die Erdgas-Pipeline Nordstream 1 gewarteten Turbine
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) steht vor der in Kanada für die Erdgas-Pipeline Nordstream 1 gewarteten Turbine
© picture alliance/dpa | Bernd Thissen
Die Debatte um Kernkraft ist nur scheinbar eine sachliche Prüfung – längst geht es um Lebenslügen und Lebensleistungen. Wenn jede Kilowattstunde zählt, sollte die Regierung rasch handeln

Wenn die Lage nicht so ernst wäre, sollte man diese Siemens-Turbine aus Mülheim an der Ruhr direkt nach Bonn ins Haus der Geschichte liefern und dort neben der kuriosen Corona-Sammlung (Impfampullen, Masken, Schilder zu „Verweilverbotszonen“) drapieren; aber weit weg vom WM-Spickzettel des früheren Nationaltorwarts Jens Lehmann, der noch an bessere Zeiten erinnert. Schon jetzt ist die Turbine, in normalen Zeiten ein Zeugnis deutscher Wertarbeit, ein Mahnmal und Symbol. Ein Symbol der Abhängigkeit und der Illusionen deutscher Energiepolitik.

Das Theater um diese Turbine könnte auch Stoff für eine neue Dokuserie auf Netflix liefern: „Aufstieg und Fall des deutschen Wohlstands“. Gut möglich indes, dass Staffel 1 bereits in Mülheim endet. Weil Russland das gute reparierte Stück, trotz Abnahme durch den Kanzler persönlich („Sie ist da und kann geliefert werden“), nicht haben will. Besser: vorgibt, sie nicht mehr haben zu können. Wegen der Sanktionen – die Russland im Übrigen mehr zusetzen, als der Kreml einräumt, wie eine Yale-Studie dieser Tage ergeben hat.

Und so durchleben wir eigenartige Tage nach diesem Juli, in dem der Dax besser lief als das Gas. Tage, in denen Grunewald und Sächsische Schweiz brennen, und Deutschland sich nicht nur von Hitzewelle zu Hitzewelle schleppt, sondern im quälenden Kriechgang durch eine Atomdebatte, die es in der Form nur in diesem Land geben kann.

Herrje, lasst die drei Meiler doch einfach länger laufen, solange es geht, was ist daran so schwer? So möchte man längst schreien, angesichts der immer neuen Horrorszenarien für diesen Winter. Und gibt es nicht sogar drei Meiler, die Ende 2021 vom Netz gegangen sind, die man auch reaktivieren könnte?

Die Selbsttäuschung hält an

Doch es geht längst nicht mehr um potenziellen Strom für zehn Millionen deutsche Haushalte. Es geht um Lebensleistungen und Lebenslügen, und so werden auf den letzten Metern als gewichtigste Argumente tatsächlich Biografien in die Waagschale geworfen, die dem Kampf gegen die Atomkraft gewidmet wurden. Biografien jener Kämpfe, die Deutschland auf Sonderwege und Irrwege geführt haben. Dabei wird, mit Gutachten, Stresstest und TÜV-Tamtam noch so getan, als führten wir eine sachliche Debatte. Es ist die Simulation von Sachlichkeit. Sachlich ist die Diskussion um Energie in diesem Land schon seit Jahren nicht mehr.

Über die Märchen und „Phantasien“ deutscher Energiepolitik spottete dieser Tage der „Economist“. Die Deutschen seien „eingelullt vom eigenen wirtschaftlichen und diplomatischen Erfolg“ gewesen. „Die Regierungspolitik wurde weniger von Pragmatismus als von Selbsttäuschung geleitet, da die Politiker die Wähler mit dem berauschenden Gerede von dauerhaftem Wohlstand mit minimalen Reibungen und natürlich null Emissionen lockten.“ Nun, aufgewacht sind wir aus der Phantasie. Um den Wohlstand fürchten wir. Die ersten Reibungen spüren wir (Energiepreise). Aber die Zuckungen der Selbsttäuschungen halten an.

Lieber sitzen wir also im Dunkeln, duschen kalt und schalten Ludwigshafen ab, lieber graben wir nochmal die Lausitz und das Ruhrgebiet um, als den Meilern auch nur eine Minute mehr Brennzeit zu gewähren. Oder? Langsam tut sich etwas. Viel zu langsam.

So musste sich auch hier der Kanzler zum Thema Abschalten einschalten und das Unvermeidliche und Naheliegende sagen: Der Weiterbetrieb könne „Sinn machen“. Neben der Bestätigung der Existenz einer Turbine und dem „You‘ll never walk alone“ die dritte wegweisende Formel des Kanzlers.

Ein neuer Pragmatismus

Die Frage nach der Atomkraft ist eine ökonomische, technische, juristische und eine politische. Ökonomisch ist vieles nicht mehr sinnvoll, was wir tun müssen, seitdem der Staat Flüssiggas von den Weltmeeren wegkauft – das können wir also abhaken. Technisch ist eine Verlängerung möglich, juristisch sogar banal. Nur politisch haben wir ein Problem. Aber können einige Menschen, die vor vierzig Jahren die ersten Sonnenblumen gemalt haben, das Land immer noch in Geiselhaft nehmen?

Dabei kann man den Grünen nicht vorwerfen, sei seien seit Kriegsausbruch nicht pragmatisch gewesen. Ihr wichtigster Vordenker und Kopf, Robert Habeck, ist seit der Reise nach Katar oberpragmatisch. „Dienst an der Wirklichkeit“ nennt er es. Er tut, was getan werden muss, ohne die Visionen zu vergessen, die der Umbau unserer Energieversorgung verlangt. Wenn aber jede Kilowattstunde zählt, wie er sagt – warum nicht auch jene, die weiter produziert werden könnten

Seit dem Kriegsausbruch lernt unser Land mühsam einen neuen Pragmatismus. Dabei lieben wir ja Grundsatzdebatten. Die Atomdebatte aber zeigt auch die Grenzen des Pragmatismus. Ebenso wie die Fracking-Debatte. Wir beziehen nun noch mehr Fracking-Gas aus den USA, aber wehe, einer möchte nur darüber nachdenken, die Lüneburger Heide mit einem Bohrhammer zu betreten (dabei hat es allein in Niedersachsen zwischen 1961 und 2011 350 Fracking-Maßnahmen gegeben).

Also quälen wir uns mit Fragen, die schon im Frühjahr hätten entschieden werden können. Länder wie Belgien haben es bei der Kernkraft vorgemacht – was für Deutsche vermutlich riskanter ist als der Weiterbetrieb deutscher AKWs. Aber so zeitenwendig sind wir dann noch nicht. Dabei ist eines klar, und das war es schon vor dem Krieg: Der massive Ausbau der erneuerbaren Energien war und ist ein Plan bis 2030, der mit seinen Zielen ohnehin sehr ambitioniert war. Er funktionierte nur mit Gas als Brückentechnologie. Und das sollte russisches Gas sein. Wenn das nun wegfällt, sollten wir nicht nur Turbinen besichtigen, sondern überlegen, was denn dann die neue Brücke sein kann.

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