Anfang März dieses Jahres kam im Team von Eurowings Digital eine nicht ganz unwichtige Frage auf: Was machen wir hier eigentlich? Die Konzernmutter Lufthansa hatte in der Corona-Krise 90 Prozent ihrer Flugzeuge vom Himmel geholt. Gab es in einer solchen Situation überhaupt eine Aufgabe für das Digitallabor einer Airline – das normalerweise daran arbeitet, Massen an Fluggästen gewinnbringend durchs Internet zu lotsen? „Uns wurde klar: Wir müssen aufhören, uns mit diesem Problem zu beschäftigen, und darüber nachdenken, welche Lösungen es für die Phase danach geben kann“, sagt Anna Semmelroth, Leiterin des Labs.
Und tatsächlich gab es etwas – sogar schon während der Krise. In Deutschland herrschte im Frühjahr großer Bedarf an Erntehelfern. Die aber kommen meist aus ärmeren EU-Ländern wie Rumänien, weshalb trotz der Einreisesperren Sondergenehmigungen für diese Arbeitskräfte galten. Wie aber, fragten sich Landwirte und Lokalpolitiker, bekommt man diese Leute bei überall geschlossenen Grenzen nach Deutschland – und dann auch noch an den richtigen Ort? Unter den Quarantäne-Bedingungen, die nach der Einreise galten?
Auch Eurowings Digital stellte diese Fragen – und begann schnell, eine Antwort zu basteln. Bauernverbände, Ministerien, Grenzbehörden, Flugbesatzungen – alle mussten einbezogen werden. Nach sieben Tagen stand eine eigene Website für den Erntehelfer-Shuttle, auf der sie alle zusammengebracht wurden. In den folgenden Wochen wurden über 20000 Menschen transportiert. Es war eine Lösung für ein neues, bisher unbekanntes Problem, die in Windeseile gefunden werden musste – und damit ein Projekt wie geschaffen für ein Innovationslabor.
Bereits zum vierten Mal kürt Capital gemeinsam mit der Hamburger Beratung Infront Consulting & Management die besten Innovations-Einheiten deutscher Unternehmen – die oft verkürzt als Digitallabore bezeichnet werden. Es ist nach wie vor die einzige umfassende Untersuchung dieser Art. Noch nie aber fand die Studie unter derart dramatischen Bedingungen statt.
Die Frage war: Würden die Labore überhaupt überleben, wenn es gerade bei so vielen Unternehmen ans Eingemachte geht? Gibt es für diese Denkstuben der Zukunft noch eine Aufgabe, wenn doch allerorts nur noch das Jetzt eine Rolle spielt? Die Antwort: Nicht alle, aber erstaunlich viele der oft kleinen Einheiten haben in der Ausnahmesituation wichtige Aufgaben übernommen und so etwas für ihre Existenzberechtigung getan. Bei der Denkwerkstatt von Audi etwa wurde sogar mitten in der Krise der Vertrag verlängert.
Von schnellen Ideen für eine Organisation des Homeoffice bis hin zu großen IT-Projekten – Corona ist zu einem ungewollten Härtetest für die Labs geworden, die ja oft seit Jahren trainieren, in raschem Tempo Lösungen zu finden. Und viele schlagen sich in diesem Test durchaus gut. „In der Corona-Krise waren die Labs, die an schnelle Lösungen für unsichere Umfelder gewöhnt sind, oft eine gute Hilfe“, sagt Thomas Sindemann, Partner bei Infront und einer der Autoren der Studie. „Da haben die Unternehmen sehr stark profitiert.“ Doch er warnt auch: „Das ist keine Versicherung dafür, dass die Labs langfristig gedeihen.“
Schon bevor die Pandemie um sich griff, hatten die Studienautoren beschlossen, diesmal gezielt auf den Faktor Skalierung zu achten – also darauf, ob die Projekte der Innovationslabore geeignet waren, schnell groß und für das Unternehmen verwertbar zu werden.
Die Frage rückte nun unter den besonderen Bedingungen noch stärker nach vorn. In der abschließenden Bewertung spielen daher anders als in den Vorjahren nur noch drei harte Kriterien eine Rolle: Welches Potenzial hat ein Projekt, richtig groß zu werden? Wie schnell? Und wie gut lässt sich damit Geld verdienen? Unterschieden wurde nach Innovationen nah am Kerngeschäft des jeweiligen Unternehmens – und solchen, die in ganz neue Richtungen gehen. Bei Letzteren tut sich vor allem die Industrie traditionell schwer. „Viele Einheiten sind mit radikalen Ambitionen gestartet – und mussten dann schnell zurückrudern“, sagt Sindemann.
Unter den Einheiten, die am Ende vorn lagen, finden sich alte Bekannte wie Comdirect – aber auch Frischlinge wie die Prismade Labs von Edding, die für den Filzmarkerhersteller unter anderem fälschungssichere Etiketten entwickeln. Bei fast allen aber, die mittelfristig erfolgreich sind, spielt es eine Rolle, ob das Lab im Unternehmen verankert ist. Im Klartext: ob es so ernst genommen wird wie ein eigenständiger Geschäftsbereich.
In der Corona-Krise wurde das überdeutlich – etwa bei Qiagen. Das Biotechunternehmen stellt medizinische Tests her, auch für Covid-19, und wurde von der Nachfrage geradezu überrannt. Von einer Woche auf die andere wurde ein Vielfaches an Testkits geordert, mehr, als alle Biotechfirmen zusammen hätten liefern können. Zugleich gab es Zusagen an bestehende Abnehmer und natürlich begrenzte Kapazitäten in der weltweit vernetzten Produktion.
Wie sollte das alles unter einen Hut gebracht werden? Das Innovationsteam, der Qiagen Digital Accelerator, setzte sich dran. „Es ging genau um das, was wir im Lab als unsere Aufgabe sehen: innerhalb kürzester Zeit mit unseren Methoden auf ein neues Problem zu reagieren“, sagt Thorsten Harzer, Leiter der Einheit. Datenanalyst Christian Schillinger und seine Kollegen bauten eine Plattform für die Abstimmung zwischen Nachfrage und Produktion.
Ein Vorgang, der bis dato händisch gemacht wurde, musste automatisiert werden. Das Problem war dabei weniger die Programmierung, sondern vor allem die Analyse. „Wir haben mehr Zeit damit verbracht, über das Problem nachzudenken als über den Algorithmus“, sagt Schillinger. „Und genau so sollte es auch sein.“
Stärke Homeoffice
Das Tempo war auch hier deutlich höher als bei klassischen Unternehmenseinheiten. Innerhalb von 24 Stunden stand der erste Entwurf, nach eineinhalb Wochen eine echte Lösung: ein Modell, das auch in Zukunft bei der Planung der Produktion genutzt werden könnte. Mit dieser Leistung hat es das Qiagen-Lab auf Platz eins bei den Innovationen nahe am Kerngeschäft geschafft.
Besonders stark zeigten sich viele Labs dann, wenn es darum ging, ihre Kollegen Homeoffice-fähig zu machen. Die Innovationsteams, die oft dezentral arbeiten, nutzen die nun allgegenwärtigen Konferenz-Tools seit Jahren. Aber nicht nur die Technik war entscheidend, auch die Erfahrung, wie sich trotz der räumlichen Entfernung Ergebnisse erzielen lassen. Dass die Einheiten ausgerechnet hier wichtig wurden, offenbart nach Ansicht von Studienautor Felix Lau aber auch ein grundlegendes Problem: „Es zeigt, wie schlecht viele Unternehmen selbst darauf vorbereitet waren“, sagt Lau.
Ohnehin ist die Bilanz vieler Labore jenseits der Corona-Ausnahmesituation eher enttäuschend. Etwa die Hälfte schätzt ihren eigenen kommerziellen Erfolg als nicht sonderlich hoch ein, weniger als ein Fünftel erzielt positiven Cashflow. „Wir sehen zu wenig Erfolge, was Skalierung und Kommerzialisierung angeht“, sagt Lau. Das Problem liegt nicht nur bei den Einheiten selbst, sondern oft auch in den Muttergesellschaften, die zwar Innovation fordern, aber davor zurückschrecken, so viel Geld in ein Projekt zu stecken, dass es sich auch großmachen lässt. Ein Hindernis, das in der Krise wohl noch höher werden dürfte.
Oft ganz aufgegeben wurde ein anfänglich sehr beliebtes Ziel: Als die Labore starteten, ging es häufig auch darum, dem ganzen Unternehmen eine Kultur der Innovation einzuimpfen. Diese Absicht ist mittlerweile in vielen Fällen still und heimlich abgeräumt worden.
Schwierig wird es außerdem auch dann, wenn klassische Industrieunternehmen sich auf völlig neue Felder begeben sollen. Der Grund: In der Ingenieurnation Deutschland vertraut man gern darauf, alte Produkte einfach immer besser zu machen. Damit wurden oft noch einkömmliche Margen erzielt, weshalb es wenig Druck gab, nach ganz neuen Geschäftsfeldern zu suchen. In der Kategorie der Innovationen abseits des Kerngeschäfts finden sich daher vergleichsweise wenige Industrieunternehmen. Und die, die es in das Ranking schafften, blieben mit ihren Ergebnissen außerdem hinter den Erwartungen zurück. Am besten schnitt hier noch die Denkwerkstatt von Audi ab. Sie hat eine Podcast- Plattform entwickelt, die Pendler im Auto mit maßgeschneiderten Audioformaten beliefert – eine Idee, die auch in den höheren Etagen der VW-Tochter Aufmerksamkeit erregte.
Die große Frage ist, ob die Corona-Krise tatsächlich, wie von vielen erwartet, einen Schub der Digitalisierung bringen wird. Dabei geht es um mehr als Videokonferenzen. „Wir erwarten auf jeden Fall eine Digitalisierung der Arbeitsverfahren, alles andere wäre auch fahrlässig“, sagt Sindemann. „Außerdem wird sich die Verlagerung von offline zu online an allen Kundenschnittstellen noch einmal deutlich beschleunigen.“ Das könnte unter dem Strich für die Labs neue Aufgaben bringen – wenn sie die Krise überleben.
Dazu könnte gehören, dass es mehr Raum gibt für die sehr spezifische Denkweise der Labs, die ja oft derjenigen eines Start-ups ähnelt. Am Anfang steht nicht das Produkt, sondern der Bedarf des Kunden – eine Sicht, die in Konzernen zuweilen verloren gegangen ist.
Anna Semmelroth von Eurowings Digital machte beim Aufbau des Erntehelfer-Shuttles eine interessante Erfahrung. Es wurde nicht einfach ein Flugplan aufgestellt und dann abgewartet, wer einsteigt – sondern es musste zuerst klar sein, wer überhaupt wohin muss. „Im Grunde“, sagt die Lab-Leiterin, „haben wir das gängige Geschäftsmodell einer Airline auf den Kopf gestellt – und zuerst die Nachfrage geklärt, dann das Angebot entwickelt. Daraus kann man viel lernen.“ Für die Zukunft könnte das heißen, dass die Buchungsvorgänge der Fluggesellschaft einer neuen Logik folgen. Und dann ließe sich nur noch schwer behaupten, dass Innovationslabore keinen Einfluss haben.
Der Beitrag ist in Capital 07/2020 erschienen. Interesse an Capital ? Hier geht es zum Abo-Shop , wo Sie die Print-Ausgabe bestellen können. Unsere Digital-Ausgabe gibt es bei iTunes und GooglePlay