Wenn Mitglieder einer Familie einen großen Konzern regieren, verhalten sie sich oft wie Fische im Aquarium: Erst schwimmt der Schwarm in eine Richtung, dann urplötzlich in die genau entgegengesetzte. Und alle, die diese schnelle Bewegung verfolgen, wundern sich, wie es dazu wohl kam.

Ende 2018 konnte man bei dem Duisburger Familienkonzern Haniel einen solchen Richtungswechsel studieren. Knall auf Fall verabschiedet sich der familienfremde, doch bis dato hochgelobte Vorstandschef Stephan Gemkow aus dem Amt. Und der oberste Vertreter der Besitzersippe, Franz Markus Haniel, wirft seinem erfolgreichen Manager zum Abschied so viele gute Worte nach, dass sich alle am Schluss fragen: Wieso muss der Mann dann überhaupt gehen?
Solche erratischen Personalwechsel gab es bei Haniel immer wieder. Und auch strategisch drehte sich der Wind oft ruckartig, etwa bei der wichtigsten Beteiligung, der Metro AG. Erst baute Haniel sein Engagement massiv aus, dann wieder ab, am Ende leitete man den völligen Ausstieg aus dem Handelskonzern ein. Dazu drängte es den Familienchef Franz M. Haniel mal, bei Metro selbst den Aufsichtsrat zu leiten, dann wieder setzte er externe Manager ein. Das Chaos in der Metro-Spitze war zeitweise so groß, dass der frühere Bayer-Chef Manfred Schneider aus Protest seinen Aufsichtsratssitz räumte. Bei der Haniel-Holding selbst wechselten die Vorstände über Jahre genauso häufig wie bei Metro.
Haniel ist nicht der einzige deutsche Konzern, in dem eine Familie als Haupteigentümer den Ton angibt – und nicht der einzige, in dem das Nebeneinander von Familienstrukturen und offiziellen Gremien mittlerweile zu gewaltigen Reibungsverlusten führt. Was gestern noch mit hohem Aufwand funktionierte, wird mit jeder neuen Generation und jedem wachsenden Familienzweig komplizierter – und hemmt inzwischen gefährlich die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen. Immer häufiger geraten Eigentümerfamilien, denen es vor allem um ihre Privatvermögen und ihren eigenen Einfluss im Unternehmen geht, in Konflikt mit den Regeln einer modernen Unternehmensführung, die für schnelle und sachgerechte Entscheidungen sorgen muss. Der alte Mythos der „guten“ Aktionärsfamilien, die langfristig denken und stets das Beste wollen – er wankt.
Die Folgen des Hauruck-Managements, unter dem etwa Haniel seit 15 Jahren leidet, kann man besichtigen: Die Metro-Aktie entwickelte sich deutlich schlechter als der Dax-Durchschnitt , der Konzern ist längst aus dem Index abgestiegen. 2017 wurde das alte Metro-Kerngeschäft in einer neuen AG abgespalten, die frühere Metro heißt seither Ceconomy und betreibt vor allem die Ketten Saturn und Media Markt. Bloß: Beide Konzerne sind heute weniger wert als vor der Trennung. Metro sei nach den vielen Strategie-, Organisations- und Personalwechseln heute „nur noch der Schatten seiner selbst“, sagt ein Ex-Aufsichtsrat.
Die Begründungen für die Volten wechselten, nur eines blieb immer gleich: keine Entscheidung ohne einen komplexen Konsensprozess in der Familie. Über 690 Köpfe zählt die über den ganzen Erdball verstreute Verwandtschaft, die sich einmal pro Jahr im „Ruhrorter Packhaus“ in Duisburg trifft, dem Stammsitz der Familie aus dem Jahr 1756. Von deren Mitgliedern gehören 30 zum Beirat des Unternehmens, vier Angehörige entsendet die Familie in den zwölfköpfigen Aufsichtsrat. Das eigentliche Regiment aber führt der „Kleine Kreis“, in dem nur zehn Mitglieder der kapitalstärksten Familienstämme sitzen. Eine komplizierte Führungsstruktur, die viel Zeit frisst. Haniel selbst spricht von „klaren Verantwortungsstrukturen und partnerschaftlicher Zusammenarbeit“. Ein ehemaliger Vorstand dagegen sagt: „Sie können sich nicht vorstellen, wie viel bei Haniels palavert wird, bevor eine wichtige Entscheidung fällt.“
Ein noch prominenteres Beispiel für die manchmal hemmende Macht einer Familie ist ausgerechnet einer der größten deutschen Konzerne: Volkswagen. Dort halten die Familien Porsche und Piëch die Mehrheitsbeteiligung über ihre Holdinggesellschaft Porsche SE. Enkel und Urenkel des legendären Gründers Ferdinand Porsche dominieren dabei nicht nur die Aufsichtsräte der beiden Hauptgesellschaften, sondern auch viele Tochterunternehmen wie Audi oder MAN. Fachlich qualifiziert für entsprechende Ämter sind viele Familienmitglieder nicht. Der wahre Grund für die Ämterfülle: Jeder Familienzweig möchte auch in kommenden Generationen mitreden und platziert den Nachwuchs vorsichtshalber bereits in den Aufsichtsräten.

Eine „Familienvereinbarung“ legt außerdem fest, dass wichtige Entscheidungen außerhalb der offiziellen Konzernstrukturen in einem „Gesellschafterausschuss“ fallen. Durch die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft im Dieselskandal kamen erstmals Vorgänge ans Licht, die sonst hinter dem Rücken normaler Aktionäre stattfinden. So wandte sich etwa der frühere VW-Aufsichtsratschef Ferdinand Piëch (damals einer der größten VW-Aktionäre) am 29. April 2015 per Fax an seinen Vetter Wolfgang Porsche („Sehr geehrter Wolfgang“), um die Wahl neuer Aufsichtsräte für die Volkswagen AG zu verhindern: „Ich darf freundlich darauf hinweisen, dass wir noch einen Beschluss des Gesellschafterausschusses gemäß der Familienvereinbarung benötigen.“
Die Verschränkung von Familien- und Konzernstrukturen bremste auch eine frühe Aufdeckung des Dieselbetrugs und einen schnellen Kulturwandel, nachdem sich die Fakten nicht mehr leugnen ließen. Die Mehrheit der österreichischen Familie sperrte sich im April 2015 gegen die Entlassung des Konzernchefs Martin Winterkorn und erzwang den Rückzug von Ferdinand Piëch, der bis dahin an der Spitze des Aufsichtsrats stand. In der kritischen Phase zwischen April und November 2015 musste der frühere IG-Metall-Chef Berthold Huber das Gremium kommissarisch führen, weil sich die Familien Piëch und Porsche nicht auf einen neuen Aufsichtsratschef einigen konnten. Als Winterkorns Nachfolger Matthias Müller im Frühjahr den erheblich belasteten Audi-Chef Rupert Stadler entlassen wollte, legten sich die Familien quer. Erst nach Stadlers Verhaftung im vergangenen Sommer rückten sie von ihrem alten Vertrauten ab.
Die Nibelungentreue zu Freunden bei gleichzeitigem Misstrauen gegen Außenstehende soll vor allem eines: die Familien Porsche und Piëch schützen. Niemand soll etwas über interne Diskussionen und die Rolle Einzelner erfahren. Die Altvorderen verpflichten die Jungen zur unbedingten Verschwiegenheit, bevor sie in die Führung vorrücken.
Dieses „Stammesdenken“ aber kann nach Meinung von Johannes von Salmuth „in Krisen tödlich sein“. Der gelernte Wirtschaftsprüfer, Spross der Saarländer Industriellenfamilie Röchling, kennt das Problem aus eigener Erfahrung. Die gut 200 Nachkommen des Gründers mussten sich in der Stahlkrise vom traditionellen Kern der Gruppe trennen und sie völlig neu erfinden. 2004 verkauften die Röchlings auch ihre Beteiligung am Rüstungskonzern Rheinmetall, um sich ganz auf die Kunststoffproduktion zu konzentrieren. Der Umbau funktionierte nur, wie von Salmuth im „Handelsblatt“ verriet, weil am Ende „Unternehmenssolidarität vor Stammessolidarität“ ging. In anderen Konzernen sieht das anders aus – man denke nur an den Dauerstreit zwischen Babette Albrecht und ihrem Schwager Theo bei Aldi Nord.
Willi Schoppen, Experte für gute Unternehmensführung bei der Personalberatung Spencer Stuart, fordert von den Mitgliedern eines Aufsichtsrats heute „Bewusstsein für die Dringlichkeit und Tragweite von Veränderungen“. Die Aufseher müssten ihre Kernaufgaben ganz anders gewichten als früher: Nicht die Kontrolle von Vergangenem stehe im Mittelpunkt, sondern die Diskussion über Strategie und Zukunft. Aufsichtsräte müssten „dringend mehr Kompetenz in Technologie und Digitalisierung“ sammeln und auch Transformationserfahrungen einbringen. In Eigentümerfamilien aber seien solche Kompetenzen „in ausreichender Breite und Tiefe“ meist nicht zu finden. Schoppen rät deshalb, stärker auf externe Mandatsträger zu setzen. Doch damit tun sich viele Familien sehr schwer.
Martin Richenhagen, heute Chef des amerikanischen Agrartechnikkonzerns AGCO , hat viele Jahre in verschiedenen Familienkonzernen gearbeitet. Seitdem sieht der Manager vieles dort eher kritisch und warnt vor der „Selbstherrlichkeit, dem Starrsinn und der Willkür“ mancher Eigentümerfamilien. Die zweite oder dritte Generation kopiere oft nur noch den Stil des Gründers, statt eine eigene Sprache zu entwickeln. Und: Nur wo Transparenz in einem Konzern herrsche, setze sich Leistungsdenken auf allen Etagen durch, betont Richenhagen. Familien wollten dagegen alles hinter den Kulissen regeln und entmutigten damit oft ihre Manager, die Entscheidungen der Großaktionäre dann nicht nachvollziehen können.
Beim Hamburger Nivea-Hersteller Beiersdorf etwa mischt sich die Familie Herz, die über eine Mehrheit der Aktien gebietet, oft direkt in die Arbeit der Vorstände ein. Der nominelle Aufsichtsratsvorsitzende Reinhard Pöllath agiere eher wie der oberste Steuerberater des Clanchefs Michael Herz, nicht wie der Vertreter aller Aktionäre, heißt es von Insidern. Beim Autozulieferer Continental setzte die Eigentümerfamilie ihren persönlichen Berater Wolfgang Reitzle an die Spitze des Aufsichtsrats. Insgesamt stellt die Familie mit ihren engsten Vertrauten fünf von zehn Aufsichtsräten. Dabei halten Maria-Elisabeth Schaeffler-Thumann und ihr Sohn mittlerweile nur noch 46 Prozent der Aktien. „Die Schaefflers verhalten sich oft wie die alleinigen Besitzer der Conti, obwohl ihnen nur eine Minderheit gehört“, kritisierte ein Vertreter von Kleinaktionären auf der letzten Hauptversammlung.
Die mangelnde Unabhängigkeit der Aufsichtsräte und die heimliche Regie der Familien gefährden langfristig die Entwicklung der betroffenen Konzerne. Julia Redenius-Hövermann von der Frankfurt School of Finance und Hendrik Schmidt von der Fondsgesellschaft DWS betonen in einer neuen Studie, mangelnde Unabhängigkeit wirke sich „nachhaltig negativ auf die Qualität der Diskussion im Aufsichtsrat und dessen Handlungsfähigkeit“ aus.
Nach einer Untersuchung der Stanford Graduate School of Business haben unabhängige Aufsichtsräte umgekehrt aber nur dann einen positiven Effekt auf die langfristige Aktienkursentwicklung, wenn sie die „Informationslücke“ überwinden, die zwischen Insidern und Außenseitern klafft. Genau das verhindern Familieneigentümer jedoch oft. Bei VW verlagerte sich 2017 fast die gesamte Debatte über den Dieselskandal vom Gesamtaufsichtsrat in das sechsköpfige Präsidium. Während sich der Aufsichtsrat laut Spencer Stuart nur zwölfmal versammelte, tagte das Präsidium 17-mal. Zum Vergleich: Bei BMW traf sich das Präsidium im gleichen Jahr bloß fünfmal – genauso oft wie der Aufsichtsrat, dessen Sitzungen das Gremium ja eigentlich auch nur vorbereiten soll.

Das Beispiel BMW zeigt generell, dass Familien als Mehrheitseigentümer eines börsennotierten Unternehmens auch eine positive Rolle spielen können. Susanne Klatten und Stefan Quandt agieren im Konzern so zurückhaltend, wie sie es von ihrer Mutter Johanna Quandt gelernt haben. Die Familie besetzt nur zwei von zehn Mandaten im Aufsichtsrat, beide Erben verfügen über viel Erfahrung jenseits von BMW. Die Quandts sorgen mit ihrer Beteiligung von fast 47 Prozent dazu seit Jahrzehnten für starke und unabhängige Aufsichtsräte – gegenwärtig etwa Ex-Merck-Chef Karl-Ludwig Kley.
Ob es aber auch der nächsten Generation gelingt, so geräuschlos zu wirken, muss sich zeigen. Susanne Klatten hat drei Kinder, ihr Bruder Stefan Quandt zwei. Künftig müssen also fünf Erben ihre Interessen untereinander austarieren.