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Kolumne Es lebe der Zank

Der Konsens gilt in Unternehmen und politischen Gruppen als erstrebenswertes Ziel. Dabei sind es die Streithähne, die neuen Ideen erst zum Durchbruch verhelfen. Von Rebecca Cassidy
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© Getty Images

Rebecca Cassidy ist Professorin für Anthropologie am Goldsmiths College der University of London. Sie schreibt regelmäßig auf capital.de

Ich besuchte unlängst eine öffentliche Anhörung in einem Vorort von London, bei der eine lokale Angelegenheit verhandelt wurde (welche, tut hier nichts zur Sache). Diese Diskussion wurde von einem Mann dominiert, der sich schlicht weigerte, eine der beiden vorherrschenden Positionen zu übernehmen. Dies führte dazu, dass die toleranten Bürger von Tower Hamlets für einen Moment lang einig waren: Sie verdrehten genervt die Augen, spielten an ihren Smartphones und warteten ab. Als der Mann seinen Beitrag schließlich erschöpft beendete, nahmen die zwei zerstrittenen Lager wieder Gestalt an und gaben erneut ihre Haltungen wieder, die aus vielen vorangegangenen Treffen bekannt waren.

Ich fragte mich, warum auch ich darauf gewartet hatte, dass der Störenfried aufhören und die "wirkliche" Debatte beginnen würde. Denn deren Beitrag zur Lösung des uns betreffenden Problems war äußerst gering. Der Fall erinnerte mich an das Buch "Why societies need dissent" (Warum eine Gesellschaft Abweichler braucht), das Cass Sunstein 2003 veröffentlichte.

Soziale Kettenreaktion

Rebecca Cassidy
Rebecca Cassidy
© Rebecca Cassidy

Sunstein ist Rechtsprofessor in Harvard und hatte eine einflussreiche Rolle in der Regierung von Barack Obama. Seine zentrale These ist, dass wir deutlich mehr von anderen übernehmen als dass wir uns auf eigene Faust Einsicht verschaffen. Um dieses Phänomen zu beschreiben, greift Sunstein auf drei Konzepte zurück: Konformität, soziale Kettenreaktionen und Gruppenpolarisierung. Danach übernehmen wir populäre Ideen, um von anderen gemocht zu werden, ein ruhiges Leben zu haben und Streit zu vermeiden oder auch deshalb, weil wir annehmen, dass unsere Mitmenschen schon richtig liegen werden. Dieses Verhalten spart nicht nur Zeit und Energie, es kann auch dabei helfen, Vertrauen zu erwerben und nützliche Beziehungen aufzubauen.

Zu sozialen Kettenreaktionen kommt es, wenn ein Gedanke von einem Meinungsführer und seinem Gefolge übernommen wird. Im Fall der Debatte in Tower Hamlets hatten beide Gruppen charismatische lokale Frontmänner mit unbestreitbaren Führungsqualitäten. Natürlich war es potenziell "kostengünstiger", deren Ideen zu übernehmen als davon abzuweichen. Wir waren froh, jemandem folgen zu können.

Die Gruppenpolarisierung schließlich beschreibt das Phänomen, dass eine Gruppe dazu neigt, extremere Positionen hervorzubringen als sie von einzelnen ihrer Mitglieder vertreten werden. So war es auch in Tower Hamlets: Die Menschen äußerten sich nach der Diskussion deutlich ausgewogener und nachdenklicher als während der hitzigen Debatte selbst.

Gruppenzwang hilft Extremisten

Diese Art von Meinungsbildung ist problematisch. Nicht nur, dass möglicherweise nützliches Wissen nicht weitergegeben wird, es ist sogar so, dass nicht hilfreiche oder sogar extreme Positionen vorangetrieben werden und sich in den Köpfen einnisten. Der Neurowissenschaftler Gregory Berns hat als Grund für den Konformismus eine Art Gruppenzwang ausgemacht: "Wenn Menschen ihre Meinungen oder Verhaltensweisen anderen anpassen, tun sie das aus einer tiefen Furcht heraus, von ihrer Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden."

Doch abweichende Meinungen bringen klare Vorteile mit sich. In den 70er-Jahren untersuchten Wissenschaftler der University of Virginia in stundenlangen Videoaufzeichnungen, wie sich die Beratungen von Geschworenen in Gerichtsverfahren entwickeln. Die Entscheidungsfindung erwies sich als deutlich besser, wenn es in der Gruppe einen Rebellen gab. Es wurden mehr Beweise herangezogen und diese wurden differenzierter betrachtet. Allerdings hatte diese höhere Qualität einen Preis, da sich die Gruppe fast in jedem Fall über den Abweichler lustig machte. Als die Studenten an ihrer Uni Scheinprozesse veranstalteten, um das Szenario weiter zu untersuchen, verlangten die Darsteller des Abweichlers eine "Kampfzulage".

Viele von uns kennen das von Sunstein beschriebene Phänomen und nutzen es durchaus auch für ihre Zwecke. Ein Mittel ist es, als erstes auf einer Sitzung zu sprechen und dabei Entschlusskraft und Selbstbewusstsein an den Tag zu legen - einer von vielen Wegen, die Ausbreitung von Meinungen gezielt zu beeinflussen. So mancher von uns wird auch schon versucht haben, einen Abweichler mit einem wütenden Blick oder einem hämischen Grinsen zum Schweigen zu bringen. Auf diese Weise schränken wir den Fluss der Ideen ein und beschränken uns auf den Status Quo. Jeder, der einmal für irgendeine Art von Bürokratie gearbeitet hat, weiß, dass genau dies das Ziel vieler Meetings ist: Hierarchien herzustellen und zu bekräftigen. Überall dort aber, wo Menschen wirklich auf Innovationen und neue Gedanken aus sind, kann die abweichende Meinung eine produktive Wirkung haben.

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Foto: © Getty Images; Rebecca Cassidy

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