Zum Auftakt unserer neuen Website schreiben ausgewählte Gastautoren zum Capital-Claim "Wirtschaft ist Gesellschaft". Heute: Rebecca Cassidy Professorin für Anthropologie am Goldsmiths College der University of London
Warum geben Menschen Geld für Dinge aus, die allem Anschein nach nutzlos sind? Wir alle kennen Veblens Theorie vom Prestige-Konsum. Der Kauf nutzloser Luxusgüter erlaubt es den Eignern der Produktionsgüter, sich von den Arbeitern abzuheben – denn die sind darauf beschränkt, Dinge zu kaufen, die sie im Alltag benötigen. Die meisten von uns dürften auch einmal von der Zeremonie des Potlatsch gehört haben – einem Stammesritual von der Westküste Nordamerikas, bei dem die Anführer auf spektakuläre Weise ihr Eigentum zerstören.
Es gehört nicht viel Phantasie dazu, derlei Aktivitäten mit modernen Exzessen zu vergleichen. Prominente Beispiele sind die über 1000 Paar Schuhe, die die Diktatorengattin Imelda Marcos einst angehäuft hatte oder die 3 Mio. Dollar teure Geburtstagsparty, die aus Steve Schwarzman einen der meistgehassten Männer der Wall Street machte.
Bei einer Konferenz in Berlin stieß ich unlängst auf ein ähnliches Phänomen, wenn auch profaner und weniger extravagant: Es ging um Ausgaben für Traktoren, Panzer und Rennautos. Wer hierbei allerdings an Hobby-Landwirte, militärische Abenteuer oder Sport denkt, liegt völlig falsch. Es handelte sich um virtuelle Güter mit genau umrissenen Funktionen in Computerspielen. Diese Dinge sind Teil einer virtuellen Wirtschaft, die in dem Maße floriert, in dem die Realwirtschaft stagniert.
Der Traktor für das Spiel FarmVille zum Beispiel erlaubt es dem Nutzer, virtuellen Mais rascher zu ernten, wodurch er mehr Zeit mit seinen virtuellen Kühen verbringen oder sich anderen dringenden FarmVille-Geschäften widmen kann. World of Tanks wiederum verkauft 240 verschiedene Panzer. Die mögen für all jene weitgehend gleich aussehen, die sich für Panzer nicht interessieren, aber offenkundig nicht für die 450 Millionen Menschen, die sich bis heute weltweit für das Spiel registriert haben. Bei CSR Racing schließlich sammelt der Spieler Autos, motzt sie auf und fährt mit ihnen Rennen gegen rivalisierende „Crews“, indem er auf dem iPhone mit einem Finger manövriert.
Was hat es mit diesen Geschäften auf sich? Und was tragen die digitalen Vertriebswege zu der Wertschöpfung bei, die hier stattfindet?
Im Jahr 2009 schrieb Chris Anderson, der damalige Chefredakteur des Magazins „Wired“, ein Buch über die Entstehung der digitalen Ökonomie, das den programmatischen Titel „Free“ trug. Er stellte die Behauptung auf, dass digitale Vertriebswege sich durch niedrige und zudem abnehmende Grenzkosten auszeichnen. Das Aufkommen von Cloud-Technologien, mit denen das Problem der Datenspeicherung gelöst wird, lässt diese Kosten sogar noch weiter sinken. In der Praxis geht der Preis der meisten neuen Dinge, die wir so gerne nutzen (Google, Youtube, Yahoo Mail), für den Konsumenten in einem wettbewerbsintensiven Umfeld gegen Null. Lag Milton Friedman also falsch, als er einst verkündete, ein Gratis-Mittagessen sei eine pure Illusion (There's no such thing as a free lunch)? Und wenn dem so ist, was unterscheidet dann die Gratis-Ökonomie von der traditionellen Wirtschaft, die ja auf knappen Ressourcen beruht? Was bedeutet Gratis überhaupt und wie funktioniert es? Oder, wie Friedman vermutlich gesagt hätte: Wie um Himmels willen kann man Geld verdienen, indem man einfach Dinge zum Fenster hinaus schmeißt?
Vielleicht hilft es, wenn man sich die Natur der Zahl Null in Erinnerung ruft, einer ganz besonderen Zahl. Sie kann durch jede Zahl geteilt werden (das Ergebnis ist immer Null) und sie war immer schon großen Verdächtigungen ausgesetzt. Es gibt eine Angst vor der Zahl Null, die aus dem Glauben von der Allgegenwärtigkeit Gottes herrührt. Das Nichts ist danach theologisch nicht denkbar. Genau aus diesem Grund lehnten Aristoteles, Pythagoras und deren Anhänger die Zahl entschieden ab. Bis ins 16. Jahrhundert spielte die Null in der ganzen christlichen Welt praktisch keine Rolle. Daraus ergibt sich eine wichtige Lehre für den Verkauf virtueller Panzer, Autos oder Traktoren: Jeder Fortschritt weg von Null hin zu Zahlen mit vertrauteren Eigenschaften, und seien sie auch noch so niedrig, ist oft holprig.
Es sind zahlreiche Experimente gemacht worden, um ein wichtiges Phänomen der Nachfragekurve zu verdeutlichen. Der Unterschied von Null zu allem, was nicht Null ist, hat eine überproportionale Bedeutung für die Kaufentscheidung. Mit anderen Worten: Entgegen der landläufigen ökonomischen Überzeugung ist das Verhältnis vom Preis zur Nachfrage keine durchgängige Kurve. Gratis ist etwas völlig anderes als billig, preiswert oder heruntergesetzt (es sei denn, der Preis wird auf Null heruntergesetzt).
Der Risikofinanzier Josh Kopelman hat diese Einsicht mit dem Begriff „Penny-Lücke“ umschrieben. Es ist danach enorm schwer, den Konsumenten dazu zu bringen, auch nur einen Penny für etwas auszugeben, von dem er findet, dass es gratis zur Verfügung zu stehen habe. Kopelman behauptet sogar, es sei leichter, einen Preis von 1 Euro auf beispielsweise 2 Euro heraufzusetzen. Seine Beobachtung stützt sich auf zahllose Versuche, Abonnements für digitale Produkte durchzusetzen und wird durch Experimente von Verhaltensökonomen bestätigt. Dan Ariely verkaufte mit einem Kollegen leckere und stark heruntergesetzte Lindt-Schokolade für 26 Cent sowie vergleichsweise weniger leckere und weniger stark reduzierte Hershey’s-Küsschen für 1 Cent. Bei dieser Versuchsanordnung entschieden sich je 40 Prozent der Kunden für eine der beiden Schokoladen.
Als Ariely den Preis für beide Produkte jedoch um je 1 Cent senkte, wählten 90 Prozent der Abnehmer die nun kostenlosen Hershey’s-Küsschen – und demonstrierten damit die ungeheure Kraft des Gratis-Versprechens. Damit verbunden ist auch das Phänomen des Preis-Ankers: Wenn sich Menschen einmal auf eine bestimmte Erwartung bezüglich des Preises für ein Produkt festgelegt haben, ist es ungeheuer schwer, sie davon wieder abzubringen. Internetspiele, Suchanfragen bei Google und Katzenvideo-Gucken auf Youtube sind Dinge, die einen Preisanker von Null haben.
Aber das ist nicht das Ende der Geschichte. Zwar sind die Konsumenten nicht mehr bereit zu zahlen, um Zugang zur digitalen Wirtschaft zu bekommen. Sie sind dies aber sehr wohl, wenn sich dadurch ihr Weg durch verschiedene Levels beschleunigt, ihre persönlichen Avatare aufgewertet werden oder sie virtuelle Superkräfte erlangen, mit denen sie sich von ihren Konkurrenten abheben können. World of Tanks machte 217,9 Mio. Euro Umsatz im vergangenen Jahr, CSR Racing kam innerhalb von einem Monat auf 12 Mio. Dollar.
Der Markt für virtuelle soziale Güter auf mobilen Computern dürfte Schätzungen zufolge bis 2016 ein Volumen von 4,6 Mrd. Dollar erreichen. Es mag sein, dass es schwierig ist, von Gratis als Ausgangspunkt zu starten. Aber genau wie bei Imelda Marcos und Steve Schwarzman kaufen wir immer noch liebend gern Produkte, die nutzlos erscheinen und doch unmissverständlich signalisieren, wer wir sind.