Auf Capital.de schreiben ausgewählte Gastautoren zum Capital-Claim "Wirtschaft ist Gesellschaft". Heute: Rebecca Cassidy Professorin für Anthropologie am Goldsmiths College der University of London
Der Soziologe Ulrich Beck stellte im Jahr 1986 die These auf, das Risiko an sich werde zum vorherrschenden Produkt unserer Gesellschaft. Wird das Leben riskanter? Und wenn ja, gewöhnen wir uns daran, Risikomanagement zu betreiben?
Unsere primitiven Vorfahren mussten, um zu überleben, gefährliche Gegner in einer feindlichen Welt überwinden oder zumindest in der Lage sein, ihnen aus dem Weg zu gehen. Dazu gehörten riesige Hyänen und mit Säbelzähnen bestückte Raubkatzen. Nach Ansicht des Anthropologen Robert Sussman entstand in der jüdisch-christlichen Überlieferung das Bild vom Menschen als Jäger, einer gefallenen Kreatur, die von Natur aus aggressiv ist.
Fossile Funde weisen darauf hin, dass der urzeitliche Mensch in Wahrheit eher Beute als Räuber war. Je eher er in der Lage war, das Risiko bei der Suche nach Nahrung zu minimieren, desto größer waren seine Aussichten auf Erfolg. In Tansania wurden Knochen gefunden, die vermuten lassen, dass schon die mit kleinen Gehirnen ausgestatteten, risikoaversen Affenmenschen vor zwei Millionen Jahren durchaus komplexe Jagdmethoden nutzten. Diese Vorläufer des Menschen versteckten sich auf Bäumen und durchbohrten ihre Beute mit Speeren, so bald sie unter den Ästen hindurch lief. Archäologische Funde zeigen zudem, dass unsere Vorfahren schlicht das Beutefleisch mancher Raubtiere stahlen oder Tiere über Klippen in den Tod trieben.
Man sollte denken, dass die Erfahrungen dieser hungrigen Fleischfresser unser Gefühl für Risiken aufs Äußerste geschärft haben. Unsere Spezies aber neigt zu dem, was Psychologen als "kognitive Verzerrung" bezeichnen: Wir scheitern systematisch bei dem Versuch, Risiken zu identifizieren und ihr Ausmaß richtig einzuschätzen. Das Problem liegt darin, dass wir uns zu sehr auf unser unmittelbar zur Verfügung stehendes Wissen verlassen. Manchmal liefern unsere Erfahrungen gute Antworten auf unsere Fragen, oft aber kommt es zu grundlegenden Fehleinschätzungen. In einer Studie aus dem Jahr 1978 zum Beispiel wurde die Häufigkeit möglicher Todesursachen völlig falsch eingeordnet. So glaubten die Befragten, Mord komme häufiger vor als Diabetes oder Magenkrebs, was vor allem mit dem für sie verfügbaren Wissen zusammenhing: Mord war einfach die Todesursache, über die am häufigsten in den Zeitungen berichtet wurde. Nach Ansicht des Finanzmathematikers Nassim Taleb beeinträchtigt dieses Phänomen auch unsere Fähigkeit, seltene Ereignisse korrekt vorherzusagen.
Was können wir tun, um diese systemische Schwäche zu überwinden? Auf einer Konferenz der Glücksspielindustrie in Las Vegas stellte ein Team des Massachusetts Institute of Technology (MIT) unlängst ein scheinbar einfaches Verfahren zur Risikoabwägung vor: das Zählen der Karten beim Blackjack. Diese Methode, so die Wissenschaftler, sei die beste Grundlage, um auch als Unternehmer eine erfolgreiche Karriere zu starten.
Wie das? Werden beim Glücksspiel Fertigkeiten trainiert, die auch unser Risikomanagement im Alltag verbessern?
Die Kartenzähler vom MIT hatten ihre Methode bereits seit den späten 70er-Jahren entwickelt. Um es einfach auszudrücken: Hohe Karten sind beim Blackjack wertvoller als niedrige Karten, und ein Spieler, der weiß, was bereits ausgespielt wurde, kann ausrechnen, mit welcher Wahrscheinlichkeit Karten von jeder Kategorie noch im verbleibenden Stapel auftauchen. Die MIT-Leute wandten dabei konsequent mathematische Methoden an und überwanden so die systematischen Fehler, die normalen Spielern unterlaufen.
Viele der MIT-Wissenschaftler gründeten in ihren späteren Karrieren erfolgreiche und extrem lukrative Unternehmen. Das mag wenig überraschen, da es sich um kluge Menschen handelt, die an einer sehr renommierten Institution studiert hatten. Allerdings schreiben sie ihren Erfolg tatsächlich den Erfahrungen zu, die sie am Blackjack-Tisch gemacht hatten. Durch das konsequente Zählen von Karten hatten sie die kognitive Verzerrung überwunden, die bei gewöhnlichen Spielern zu falschen Strategien beigetragen hatte.
Ähnliches lässt sich bei Sportlern, Kampfpiloten und Schachspielern beobachten, die ebenso darauf trainiert werden, Risiken in einem vorgegebenen Rahmen zu erkennen und auszunutzen. Ihre Methode brachte den MIT-Leuten Geld ein und bereitete sie auf riskante Geschäfte vor.
Aber sie zahlten auch einen Preis für ihren Erfolg. Einzelne Mitglieder des Teams wurden auf schwarze Listen gesetzt, von Kasinos ausgeschlossen und in manchen Ländern sogar verhaftet. Diebe wurden auf die Gruppe aufmerksam. Der Erfolg machte verwundbar. Sie reagierten darauf, in dem sie sich auf risikoärmere Methoden des Geldverdienens verlegten – und Geschäftsleute oder professionelle Pokerspieler wurden.
Mit anderen Worten: Sie stiegen auf Bäume und bewarfen die Tiere unter sich mit Speeren.
Lesen Sie auf Capital.de Rebecca Cassidys ersten Beitrag: Der Wert des Kostenlosen
Foto: © Dennie Cody/Getty Images; Rebecca Cassidy