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Kolumne Siegeszug gegen den freien Markt

Ungleichheit und Wachstumsschwäche machen Nationalisten und Verächter der Globalisierung stark. Von Nouriel Roubini
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Nouriel Roubini ist Chairman von Roubini Global Economics und Professor für Ökonomie an der Stern School of Business der New York University.

Nach der globalen Finanzkrise von 2008 konnte die Politik verhindern, dass sich die Große Rezession zu einer zweiten Großen Depression auswuchs. Nationalisten und Anhänger des Protektionismus wurden dadurch zunächst ausgebremst. Nun aber, sechs Jahre nach dem Ausbruch der Krise, ist die große Gegenreaktion da. Der Widerstand gegen die Globalisierung – und den freieren Fluss von Waren, Dienstleistungen, Kapital, Arbeit und Technologien, der mit dieser einherging – erreicht eine neue Dynamik.

Dieser neue Nationalismus nimmt verschiedene Formen an: Handelsschranken, Schutz von Vermögenswerten, Schritte gegen ausländische Direktinvestitionen, politische Strategien, die inländische Arbeitnehmer und Unternehmen begünstigen, immigrationsfeindliche Maßnahmen, Staatskapitalismus und Ressourcennationalismus. In der politischen Arena gewinnen populistische, globalisierungs- und einwanderungsfeindliche und in einigen Fällen sogar offen rassistische und antisemitische Parteien an Unterstützung.

Diese Kräfte verabscheuen die Buchstabensuppe supranationaler Regierungsorganisationen – wie EU, UNO, WTO und IWF –, die die Globalisierung begleitet. Selbst dem Internet, dem Inbegriff der Globalisierung während der vergangenen zwei Jahrzehnte, droht die Balkanisierung, da sich autoritär geführte Länder – darunter China, der Iran, die Türkei und Russland – inzwischen bemühen, den Zugriff auf soziale Medien zu beschränken und gegen die freie Meinungsäußerung vorgehen.

Politik für eine Minderheit?

Die Ursachen dieses Trends sind klar. Die blutleere Konjunkturerholung hat populistischen Parteien den Weg geebnet. Sie preisen protektionistische Maßnahmen an und geben ausländischen Unternehmern und Gastarbeitern die Schuld an der anhaltenden Malaise. Hinzu kommt, dass die Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen in den meisten Ländern zunimmt. Es setzt sich weithin der Eindruck durch, in einer „Winner-take-all“-Wirtschaft zu leben, die nur den Eliten nutzt und in der das politische System verzerrt wird. Dies gilt für hochentwickelte Volkswirtschaften wie die USA, wo gewählte Amtsträger in einem Akt legalisierter Korruption von finanzstarken Gruppen finanziert werden. Es gilt aber auch für Schwellenländer, in denen häufig Oligarchen die Wirtschaft und das politische System dominieren. Politik, diese Wahrnehmung wird immer stärker, wird hier für eine Minderheit betrieben.

Für die große Masse dagegen bleibt nur Stagnation, mit einem schwachen Arbeitsmarkt und stagnierenden Löhnen. Besonders bedrohlich ist die wirtschaftliche Unsicherheit für die Arbeiter- und Mittelschicht in der Eurozone, wo in vielen Ländern populistische, überwiegend weit rechts stehende Parteien bei den Wahlen zum Europaparlament am vergangenen Wochenende die etablierten Parteien überflügelten. Wie in den 1930er Jahren, als die Große Depression in Italien, Deutschland und Spanien autoritäre Regierungen hervorbrachte, könnte auch jetzt ein ähnlicher Trend im Gange sein.

Wenn sich die Einkommens- und Beschäftigungslage nicht rasch verbessert, könnten die populistischen Parteien in Europa der Macht auf nationaler Ebene näher kommen, und EU-feindliche Einstellungen könnten dann den Prozess der wirtschaftlichen und politischen Integration zum Erliegen bringen. Schlimmer noch: Die Eurozone könnte erneut in Gefahr sein: Einige Länder wie Großbritannien könnten die EU verlassen; andere wie Spanien und Belgien könnten letztlich auseinanderbrechen.

Die Welt igelt sich ein

Selbst in den USA ist die wirtschaftliche Unsicherheit einer riesigen weißen Unterschicht, die sich durch Einwanderung und globalen Handel bedroht fühlt, im wachsenden Einfluss zweier Gruppierungen der republikanischen Partei erkennbar – der extremen Rechten und der Tea Party. Beide Gruppen zeichnen sich durch Fremdenfeindlichkeit, immigrationsfeindliche und protektionistische Neigungen, religiösen Fanatismus und geopolitischen Isolationismus aus.

Eine andere Variante dieser Dynamik ist in Russland und vielen Teilen Osteuropas und Zentralasiens erkennbar, wo der Fall der Mauer keine Entwicklung hin zu Demokratie, Wirtschaftsliberalisierung und raschem Produktionswachstum einläutete. Stattdessen regierten hier für den Großteil des vergangenen Vierteljahrhunderts nationalistische und autoritäre Führungen. Deren staatskapitalistische Wachstumsmodelle gewährleisteten lediglich eine mäßige Wirtschaftsentwicklung. Dazu passt der Versuch des russischen Präsidenten Wladimir Putin die Ukraine zu destabilisieren. Dahinter steht Putins Traum von einer einer „Eurasischen Union“ – einem kaum verschleierten Versuch, die ehemalige Sowjetunion wiederherzustellen.

Auch in Asien lebt der Nationalismus wieder auf. Die neuen Staats- und Regierungschefs in China, Japan, Südkorea und jetzt auch Indien sind politische Nationalisten – und das in Regionen, wo noch immer ernste territoriale Streitigkeiten bestehen und historische Ressentiments gepflegt werden. Diese Führer müssen strukturelle Reformen in Angriff nehmen, wenn sie das nachlassende Wirtschaftswachstum wiederbeleben wollen. Ein wirtschaftlicher Niedergang könnte weitere nationalistische, fremdenfeindliche Tendenzen anheizen – und sogar militärische Konflikte auslösen.

Zugleich bleibt der Mittlere Osten in der Rückständigkeit gefangen. Der Arabische Frühling – ausgelöst durch schwaches Wachstum, hohe Jugendarbeitslosigkeit und Mangel an wirtschaftlichen Perspektiven – ist in Ägypten und Libyen einem langen Winter gewichen, wo die Alternativen eine Rückkehr zu autoritären Regimen und politisches Chaos sind. In Syrien und Jemen herrscht Bürgerkrieg; dem Libanon und dem Irak könnte ein ähnliches Schicksal drohen; der Iran ist sowohl instabil als auch eine Gefahr für andere, und Afghanistan und Pakistan nehmen sich zunehmend wie gescheiterte Staaten aus.

Quelle des Extremismus

In allen diesen Fällen heizen wirtschaftliches Scheitern und ein Mangel an Chancen und Hoffnung für die Armen und die Jugend den politischen und religiösen Extremismus, Groll gegenüber dem Westen und, in einigen Fällen, offenen Terrorismus an.

In den 1930er Jahren brachte das Versagen, die Große Depression zu vermeiden, in Europa und Asien autoritäre Regime an die Macht und führte letztlich zum Zweiten Weltkrieg. Diesmal haben die von der Großen Rezession verursachten Schäden die meisten hochentwickelten Volkswirtschaften einer Stagnation ausgesetzt und stellen die Schwellenmärkte vor erhebliche strukturelle Wachstumsprobleme.

Dies ist der ideale Nährboden, auf dem ein wirtschaftlicher und politischer Nationalismus Wurzeln schlagen und gedeihen kann. Wir sollten die aktuelle Gegenreaktion auf Handel und Globalisierung im Kontext dessen betrachten, was, wie wir aus Erfahrung wissen, als Nächstes kommen könnte.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

© Project Syndicate 2014

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