Auf den ersten Blick fahren die deutschen Konzerne ihre Lieferungen nach Russland weiter zurück: Die offizielle Statistik weist für das erste Halbjahr ein Minus von 42,2 Prozent aus. Noch deutlicher beim Import: Die Einfuhren aus Russland fielen in dieser Zeit sogar um sagenhafte 88,9 Prozent. Doch das Bild vom Musterschüler der internationalen Gemeinschaft, der sich konsequent von Wladimir Putin abwendet, täuscht. Das gilt vor allem für den Export: Immer mehr deutsche Waren gelangen über Nachbarländer wie Kasachstan oder Georgien nach Russland. Anders sind die gewaltigen Steigerungen beim Handel mit den kleinen Republiken an der Peripherie des großen Putin-Reichs nicht zu erklären, die teilweise im ersten Halbjahr dieses Jahres bei über 100 Prozent lagen.
Die Masse der Waren, die über Umwege nach Russland gelangen, fällt nicht direkt unter das Sanktionsregime des Westens. Trotzdem gelangen nach wie vor viele sogenannte Dual-Use-Komponenten in das Land, die Putin dringend für den Bau von Raketen und Panzern benötigt. Und auch viele normale Waren dienen indirekt der Unterstützung des russischen Kriegs in der Ukraine – etwa Nahrungsmittel, die an der Front landen.
Nach wie vor machen auch viele deutsche Konzerne weiterhin Geschäfte im Innern Russlands. Das gilt für so unterschiedliche Unternehmen wie den Joghurthersteller Ehrmann oder den Einzelhändler Globus, die Kranbaufirma Liebherr oder den Textil- und Modeverkäufer New Yorker. Sie alle verlassen sich darauf, dass das öffentliche Interesse an ihrem moralisch verfehlten Verhalten allmählich versiegt.
Der Fall Claas
Eine große Mitschuld an der Lage tragen aber auch die Sanktionen selbst, die den deutschen Konzernen viel zu viele Lücken lassen. Ein gutes Beispiel dafür ist der Landmaschinenhersteller Claas: Der Familienkonzern darf zwar keine Traktoren nach Russland liefern, weil man sie zur direkten Unterstützung des Kriegs in der Ukraine einsetzen könnte – zum Beispiel beim Bau von Stellungen. Mähdrescher gelten dagegen als unkompliziert und Claas produziert sie nach wie vor in großen Stückzahlen für den russischen Markt. Konzernchef Jan-Hendrick Mohr sieht sich dabei auch moralisch auf der richtigen Seite. Schließlich leiste Claas einen „Beitrag zur weltweiten Nahrungsmittelversorgung“ und damit zum Kampf gegen den Hunger in den ärmsten Ländern, betonte der Manager in der vergangenen Woche in einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“.
Doch die letzten Wochen haben gezeigt, dass der Konzern so Putins Kriegsziele und seine perfide Strategie unterstützt. Russische Raketen zerstören in diesen Wochen systematisch die ukrainische Infrastruktur für den Export von Getreide, kurbeln den eigenen Anbau mit Hilfe von Konzernen wie Claas an und springen anschließend mit ihren Ausfuhren in die entstandene Lücke auf dem Weltmarkt. Wer diese Strategie direkt oder indirekt unterstützt, sollte nicht über Ethik reden.