So kurz vor den Sommerferien (zumindest für mich – Sie lesen diesen Beitrag ja vielleicht schon im Liegestuhl oder im Strandkorb) will man keine schlechten Nachrichten mehr hören oder lesen. Und ehrlich gesagt, man will sie auch nicht mehr schreiben.
Weil wir bei Capital die Lage aber auch nicht komplett ignorieren können, will ich mich in diesem letzten Newsletter vor der Sommerpause darum bemühen, in all den tristen Meldungen aus der Wirtschaft das Positive nach vorne zu stellen. Oder wenigstens die große Krise etwas zu entwirren und zu entzerren, zu der sich die Nachrichtenlage derzeit hochschaukelt. Denn „gefühlt“, wie man heute so gerne sagt, wird ja alles eins in diesen Tagen, geht irgendwie alles den Bach herunter. „Gefühlt“ ist ja nie ganz falsch, aber eben auch genau dies: ein Gefühl und eben keine gesicherte Tatsache.
Nein, es ist nicht alles eins in diesen Tagen – es gibt Unterschiede, wichtige sogar, und sie werden in den kommenden Monaten noch eine große Rolle spielen.
Stagnation, keine Katastrophe
Ja, die Konjunktur lahmt: Der Absatz deutscher Unternehmen in ihrem wichtigen Exportmarkt China läuft nicht gut; hier und anderswo lastet die Inflation auf dem Konsum; das Bruttoinlandsprodukt stagnierte im zweiten Quartal, wie das Statistische Bundesamt heute mitteilte. Und der Internationale Währungsfonds in Washington sagte diese Woche voraus, die deutsche Wirtschaft werde im Gesamtjahr 2023 um 0,3 Prozent schrumpfen.
Aber: Das ist kein dramatischer Einbruch, wenn es so kommt, das ist eher ein schwaches Hin und Her um die Null-Linie – das ist eine Stagnation. Keine Katastrophe, aber ein Warnsignal, dass etwas nicht stimmt mit dem deutschen Wirtschaftsmodell.
Wenn wir ehrlich sind, war vieles der aktuellen Krise sogar absehbar: Als andere in diesem Frühjahr von einer positiven Überraschung träumten, die erstaunliche Robustheit deutscher Unternehmen im Krisenjahr 2022 und ihre hohe Profitabilität lobten, gab Capital schon früh eine „Gewinnwarnung“ aus und mahnte, die guten Zahlen aus dem letzten Jahr könnten trügen. Ausdrücklich galt dies für die deutschen Autobauer und die deutsche Chemieindustrie, die überraschend gut durch die Gaskrise gekommen waren.
Jetzt zeigt sich: Viele Branchen erlebten im vergangenen Jahr tatsächlich eine unverhoffte Sonderkonjunktur. Weil das Angebot knapp war, konnten Unternehmen gestiegene Einkaufspreise nicht nur weiterreichen, sondern mitunter auch noch einen Aufschlag verlangen. Das galt etwa für die chemische Industrie: In der Furcht vor einem Produktionsstopp im Winter legten ihre Kunden hohe Lagerbestände an, um die eigene Produktion sichern zu können. Heute wundert man sich: Obwohl die Energiepreise seit dem letzten Sommer deutlich gesunken sind, klagen Konzerne wie BASF, Covestro, Bayer, Evonik oder Lanxess über gestiegene Kosten und schlecht laufende Geschäfte – die Produktion soll in diesem Jahr branchenweit um etwa acht Prozent gegenüber Vorjahr sinken, die Umsätze sogar um 14 bis 16 Prozent.
Autobauer und Chemiekonzerne schlagen Alarm
Das sind dramatische Zahlen – viele Unternehmen drohen bereits damit, ihre Produktionen lieber anderswo hochzufahren, wo die Energie günstiger sei. Allerdings, die Energiekosten allein werden einen solchen Schritt kaum rechtfertigen. Der Gaspreis etwa, tatsächlich ein wichtiger Faktor für die chemische Industrie, liegt heute etwa 25 Prozent höher als im Jahr 2018. Das ist nicht Nichts, aber sicher kein Grund für Untergangsstimmung. Richtig ist hingegen: Die hiesigen Kunden der Chemieindustrie bauen gerade ihre hohen Lagerbestände ab, und wenn das durch ist, werden sie wieder bestellen. Und auch das Geschäft auf dem Weltmarkt wird irgendwann zurückkommen – die Chemiebranche war schon immer extrem zyklisch.
Hinzu kommen einige hausgemachte Probleme in den Unternehmen, teure Investitionen, die sich heute als Problem erweisen. Früher hätte man dazu unternehmerisches Risiko gesagt, heute soll immer gleich der Staat einspringen.
Ähnlich die Lage in der deutschen Autoindustrie, die Zahlen aus dieser Branche klingen wirklich erschreckend. Gegenüber dem Vorkrisenjahr 2019 produzierte VW nach Recherchen des „Handelsblatts“ in den ersten fünf Monaten dieses Jahres in Europa rund 23 Prozent weniger Autos, BMW zehn Prozent und Mercedes sogar ein Drittel weniger. Egal, wo man hinschaut, deutsche Autos verkaufen sich deutlich schlechter als gedacht. Schon mahnt der Markenchef von VW, Thomas Schäfer: „Die Zukunft der Marke VW steht auf dem Spiel.“
Doch auch hier ist ein großes Aber angebracht: Zwischen 2019 und 2023 liegen nicht nur vier Jahre und viele Krisen, sondern auch ein bewusster Strategieschwenk der deutschen Autobauer, verstärkt auf hochpreisige Fahrzeuge zu setzen – ganz besonders bei Mercedes. Die Strategie mag riskant erscheinen, aber weniger Autos zu produzieren ist für Mercedes kein Rückschlag, sondern in den Augen von CEO Ola Källenius ein Zeichen des Fortschritts – hin zu höherer Profitabilität.
So konsequent wie der Mercedes-CEO kann der Volkswagen-Konzern diese Strategie nicht verfolgen, doch die Zahlen, die VW-CEO Oliver Blume diese Woche für das erste Halbjahr vorstellte, waren ebenfalls keine Katastrophe. Blume senkte die Absatzziele für das laufende Jahr, konnte für das erste Halbjahr aber ein Umsatzplus von 18 Prozent auf gut 80 Mrd. Euro vermelden. Der operative Gewinn sank zwar, betrug aber immer noch mehr als 11 Mrd. Euro. Und das, obgleich das wichtige China-Geschäft bei VW tatsächlich alles andere als rund läuft.
Auch hier spielten einige Sondereffekte mit rein – aber unterm Strich bleibt: Die deutschen Autobauer haben, bei allen Problemen, mit solchen Milliardengewinnen immer noch die Kraft, ihr Geschäftsmodell zu transformieren. Gut möglich, dass wir im Herbst weitere Produktionskürzungen sehen werden, dass Werke zeitweise Ferien machen oder Hersteller auch mal Kurzarbeit verkünden werden – das wird für weitere Unsicherheit sorgen, bei Zulieferern und bei Mitarbeitern. Aber es ist eben auch ein Zeichen einer strukturellen Anpassung, in der die Autoindustrie schon seit einigen Jahren steckt und die auch niemand aufhalten sollte.
„So langsam nervt mich die Hysterie“
Das ist ohnehin die wichtigste Aufgabe in all diesen kleinen und großen Untergangsgeschichten: zu unterscheiden, was das übliche Auf und Ab der Konjunktur und was das bekannte Geschrei nach Unterstützung ist, manchmal berechtigt, manchmal opportunistisch („Industriestrompreis jetzt!“ – „Energiepreisdeckel verlängern!“ – „Standortprämien, unbedingt!“). Und was eine schmerzhafte, aber notwendige Anpassung an neue Märkte und Wettbewerber ist. In beiden Fällen können staatliche Hilfen angezeigt sein, aber auch dann bleibt Deutschland eine der kraftvollsten Volkswirtschaften weltweit, die solche Transformationen noch am ehesten begleiten, antreiben und abfedern kann.
Ich empfehle Ihnen dazu als Wochenendlektüre das Interview mit dem liberalen Ökonomen Lars Feld, Chefberater von Finanzminister Christian Lindner, das mein Kollege Jannik Tillar diese Woche geführt hat: „So langsam nervt mich die Hysterie“, sagt Feld darin ganz herrlich unverblümt.
Bei weitem nicht alles ist gut im Land, einiges hat sich in den vergangenen vier, fünf Jahren durch Pandemie, Krieg und eine schon sehr lang bekannte deutsche Nachlässigkeit und Überheblichkeit sogar verschlechtert: die Belastung durch Steuern und Abgaben etwa, die hohen Ausgaben für Rente, Gesundheit und Pflege, die öffentliche Infrastruktur, der Zustand der Verwaltung. Viel spricht dafür, dass Deutschland nach den Sommerferien eine neue Debatte führen wird: über notwendige Reformen, um international wettbewerbsfähig zu bleiben. Möglicherweise werden wir tatsächlich über eine Agenda 2030 oder 2040 diskutieren – es wäre gut und überfällig. Aber, und das gehört zur Wahrheit in diesen Tagen dazu: Nirgendwo steht geschrieben, dass Deutschland nicht genau zu solchen Reformen auch fähig wäre.