Als der Sachverständigenrat Wirtschaft an diesem Mittwochnachmittag in Berlin zusammenkommt, um sein Jahresgutachten bei einer Pressekonferenz vorzustellen, warten die Anwesenden gespannt: Kommt es zu einem öffentlichen Zank wie bei der Präsentation des Frühjahrsgutachtens im Mai? Platzt das Beratergremium gar, ähnlich wie die Ampel? Schließlich streiten die fünf Top-Ökonomen seit Monaten über die Aufsichtsratstätigkeit eines ihrer Mitglieder bei einem Dax-Unternehmen. Doch auf dem Podium ist davon zunächst nichts zu spüren. Die sogenannten Wirtschaftsweisen treten geeint auf.
Einhellig vertreten sie die Meinung, dass die deutsche Wirtschaft weiterhin schwächelt. Und auch im kommenden Jahr werde sich die Wirtschaftslage nur leicht bessern. Konjunkturelle und strukturelle Probleme bremsten Wachstum weitestgehend aus. Es habe in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten Versäumnisse in der Politik und in der Wirtschaft gegeben – insbesondere bei den Ausgaben für Verkehrsinfrastruktur, Verteidigung und Schulbildung, deren gesellschaftlicher Nutzen größtenteils erst in der Zukunft eintritt.
„Umso dringlicher erscheint es uns, die Modernisierung unseres Landes jetzt entschlossen voranzutreiben“, so die Vorsitzende des Sachverständigenrates Monika Schnitzer. Es brauche institutionelle Vorkehrungen, die die Politik wirksam verpflichten, ausreichende Mittel für zukunftsorientierte Ausgaben einzusetzen.
Klage gegen Verhaltenskodex
Bis dahin wirken die fünf Ökonomen überraschend harmonisch. Dabei gilt die Gruppe als tief gespalten, seitdem die Wirtschaftsweise Veronika Grimm ein Aufsichtsratsmandat bei Siemens Energy angenommen hatte. Die anderen vier Ratsmitglieder hatten sich öffentlich gegen ihre Kollegin positioniert. Ulrike Malmendier, Monika Schnitzer, Achim Truger und Martin Werding warfen der Energieexpertin Grimm Interessenkonflikte vor. Mit einer Rücktrittsforderung scheiterten sie jedoch.
Damit der Sachverständigenrat sich wieder auf inhaltliche statt persönliche Auseinandersetzungen konzentrieren kann, wollte sich das Gremium selbst einen Verhaltenskodex erteilen. In den vergangenen Wochen kam heraus, dass nicht alle fünf Weisen hinter dem Vorhaben stehen: Veronika Grimm legte vor dem Verwaltungsgericht Wiesbanden Klage gegen den Verhaltenskodex ein und wollte ihn für nichtig erklären lassen.
Bei entsprechenden Nachfragen von Journalisten fängt es auf dem Podium dann doch an zu knirschen: Kommentieren wolle Grimm den Vorgang nicht, sie selbst habe die Klage schließlich nicht öffentlich gemacht. Tatsächlich hatte die Ratsvorsitzende Schnitzer die Querelen in einem Interview mit der „Wirtschaftswoche“ thematisiert. Grimm sagte lediglich, der Verhaltenskodex werde jetzt vor Gericht verhandelt und beeinträchtige die Arbeit des Sachverständigenrats aktuell nicht. „Solange diese Regelungen nicht offengelegt sind, werden wir darüber uns auch nicht öffentlich austauschen können“, sagte Grimm. Den Kodex nicht zu veröffentlichen, habe man gemeinsam beschlossen, so Ratsvorsitzende Schnitzer, „das war Teil einer vertrauensbildenden Maßnahme“.
Wirtschaftsweise Grimm drei Mal anderer Meinung
Das Gremium sei professionell bei der Arbeit, unterstrich auch Martin Werding – „trotz gewisser Differenzen, die wir in einem Punkt haben, der für die Erstellung des Jahresgutachtens jetzt nicht von zentraler Bedeutung ist“. Bei einem Blick ins Jahresgutachten wird jedoch schnell klar, dass die Wirtschaftsweisen im Detail so gar nicht mit einer Stimme sprechen: Energieexpertin Grimm hat insgesamt drei Minderheitsvota abgegeben. Während ihre Koleginnen und Kollegen zum Beispiel eine Flexibilisierung der Schuldenbremse fordern, steht Grimm einer Reform deutlich skeptischer gegenüber. Auch beim Thema Wohnungsmarkt nimmt Grimm eine andere Haltung ein als die Ratsmehrheit: Die einen wollen die Mietpreisbremse im Jahr 2028 abschaffen, Grimm will sie schon bis 2027 langsam auslaufen lassen.
Die gemeinsamen Texte seien aus einem Aushandlungsprozess und einer inhaltlichen Auseinandersetzung entstanden, kommentierte Grimm ihre Minderheitsvota nüchtern. „Wenn es Divergenzen im Rat gibt, dann sind die auch klar ausdifferenziert.”
Wirtschaft stagniert
Damit es mit der Modernisierung in Deutschland endlich vorangeht, haben die Wirtschaftsweisen verschiedene Vorschläge erarbeitet. Der Ausbau der Verkehrsinfrastruktur könnte über einen eigens eingerichteten Fonds finanziert werden, in den dauerhaft Einnahmen aus dem Kernhaushalt fließen, etwa die Lkw-Maut oder perspektivisch auch eine Pkw-Maut. Für den Verteidigungssektor empfiehlt das Gremium, Mindestausgabenquoten zu definieren, die sich am Zwei-Prozent-Ziel der NATO orientieren könnten. Auch für Bildungsausgaben, insbesondere für Schulbildung, gelte es, länderspezifisch verbindliche Ausgabenquoten feszulegen, zum Beispiel pro Schülerin und Schüler.
Für das laufende Jahr erwartet der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, dass das Bruttoinlandsprodukt (BIP) dieses Jahr um 0,1 Prozent schrumpft. Für 2025 wird ein Wachstum der Wirtschaftsleistung von 0,4 Prozent vorausgesagt. Damit senkt das fünfköpfige Gremium seine Prognosen aus dem Frühjahr. Zum Teil weicht der Sachverständigenrat damit auch deutlich von der Wachstumserwartung der Regierung ab, die für 2025 ein Plus beim BIP von 1,1 Prozent prognostiziert. Die Wirtschaftsweisen rechnen außerdem damit, dass die Verbraucherpreisinflation weiter zurückgeht und sich der Zielmarke der Europäischen Zentralbank (EZB) annähert. Nach durchschnitlich 2,2 Prozent in diesem Jahr dürfte die Inflationsrate im Jahr 2025 bei 2,1 Prozent liegen.
Ursächlich für die Zurückhaltung von Unternehmen und Konsumenten seien vor allem politische Unsicherheiten. Der nächsten Bundesregierung raten die Wirtschaftsweisen deshalb, unbedingt weniger zu streiten als die zerbrochene Ampel-Koalition. „Das wirklich Allerwichtigste ist, dass man sich in Zukunft darauf verständigt, auch Kompromisse einzugehen und die dann durchzuhalten", sagte Ratsvorsitzende Schnitzer, „es wird ja nicht einfacher.“ Diese Empfehlung dürfte auch für dem Sachverständigenrat Wirtschaft selbst nicht schaden.