Am 24. Februar 2021 um elf Uhr versammelten sich im Europasaal 4900 des Paul-Löbe-Hauses in Berlin neun ausgesuchte Sachverständige zu einer Anhörung des Bundestagsausschusses für Wirtschaft und Energie. Der Linke Klaus Ernst führte den Vorsitz. Es ging um die Beziehungen mit Russland, vor allem um die Öl- und Gaslieferungen. Man kann das Wortprotokoll dieser Sitzung mit Fug und Recht als wichtiges historisches Dokument bezeichnen. Oder genauer gesagt: als Dokument der Blindheit der sogenannten Russland-Experten aus der deutschen Wirtschaft, die dort auf den Tag genau ein Jahr vor dem Überfall auf die Ukraine in der Bundeshauptstadt ihre Einschätzung der Lage ausbreiteten.
Spätestens seit der vergangenen Woche kann niemand mehr daran zweifeln, dass Wladimir Putin Erdgas als politische Waffe einsetzt. Und das vor allem direkt gegen Deutschland, aus seiner Sicht das schwächste Kettenglied in Europa. Die technischen Begründungen für die Drosselung der Lieferungen durch die Pipeline Nord Stream 1 seien „schlicht vorgeschoben“, der russische Diktator wolle Europa vielmehr durch seine Schritte politisch verunsichern und spalten, betont Wirtschaftsminister Robert Habeck völlig zu Recht. Damit ist genau das Gegenteil von dem eingetreten, was die Experten damals in der Anhörung mit dem Brustton der Überzeugung prophezeit hatten.
Die Russland-Freunde der Industrie
Einige Zitate aus dem offiziellen Protokoll: Michael Harms vom Ost-Ausschuss der deutschen Wirtschaft plädierte für „weiter verstärkte Energiebeziehungen“ mit dem Reich Putins, von einer einseitigen Abhängigkeit könne „nicht die Rede sein“. Der Aufsichtsratsvorsitzende des Bilfinger-Konzerns, Eckhard Cordes, belehrte die anwesenden Abgeordneten, Russland habe Rohstoffexporte noch „niemals als politische Waffe eingesetzt“ und werde das auch künftig nicht tun. Notwendig sei ein „team up“ mit Russland gegen die USA und China. Deshalb müsse Deutschland die Pipeline Nord Stream 2 auch um jeden Preis fertigstellen. Und der Russland-Bevollmächtigte des Gipskonzerns Knauf lobte generell die „extrem positive“ Haltung des Putin-Regimes gegenüber seinem Unternehmen und kritisierte die „bürokratischen“ Hürden für sein Geschäft auf deutscher Seite.
Inzwischen schweigen viele der damaligen Sachverständigen lieber. Das gilt vor allem für den Aufsichtsratschef Cordes, der auf der damaligen Sitzung in Berlin gemeinsam mit Harms die meiste Redezeit für sich beanspruchte und durch besonders undifferenzierte Pro-Putin-Positionen und lautstarke Forderungen nach Aufhebung der Sanktionen auffiel, die nach dem Überfall auf die Krim 2014 verhängen worden waren. Seit der Krieg in der Ukraine tobt, war von dem Manager nichts mehr zum Thema zu hören. Schon gar nicht etwas Selbstkritisches. Und andere Experten belassen es bei einem lapidaren „Wir haben uns eben in Putin geirrt“.
In der Politik hört man viele Forderungen, die Fehler der deutschen Haltung zu Putin systematisch aufzuarbeiten. Das ist in der Tat notwendig und richtig. Die deutsche Wirtschaft aber sollte sich nicht hinter der Verantwortung anderer verstecken. Sie hat sich die Lage in Russland buchstäblich schöngeredet – genauso wie sie es heute noch mit der Volksrepublik China macht. Dabei könnte man aus der Geschichte etwas lernen, wenn man es denn wollte.