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Horst von Buttlar Der Lärm des Abstiegs ist lauter als die Musik des Aufbruchs

Der Nährboden für Wachstum in 2023 ist gesetzt. Vieles ist besser als es erscheint, meint Capital-Chefredakteur Horst von Buttlar
Der Nährboden für Wachstum in 2023 ist gesetzt. Vieles ist besser als es erscheint, meint Capital-Chefredakteur Horst von Buttlar
© IMAGO/Imagebroker
Viele gehen mit einem Gefühl der Erschöpfung und Beklommenheit ins neue Jahr. Es wäre aber falsch, 2023 im Kopf schon abzuhaken - denn es gibt auch Lichtblicke und Hoffnungszeichen

es war ein seltsamer Zufall: Wenige Stunden nach dem Überfall auf die Ukraine war mein Corona-Test das erste Mal positiv.  Ich war um fünf Uhr morgens, ohne Symptome, aber mit einem komischen Gefühl aufgewacht. Die Tage darauf saß ich in Isolation in unserem Schlafzimmer – in dieser Mischung zwischen Hotel und Knast – und erlebte, wie der Corona-Ticker den Ukraine-Ticker verdrängte.  

Und ich spürte, wie beide Krisen parallel meinen Körper durchzuschütteln begannen, der Virus und dieser Krieg. Es passierte in meinem Körper also in etwa das, was unserer Gesellschaft passiert: Wir erleben multiple Krisen, verschachtelte Krisen, die Krise in der Krise in der Krise. Wer die Zukunft gestalten will, gerät schnell außer Atem – und wird immer wieder gestört und unterbrochen. 

Wir gehen ins Neue Jahr mit einer Anspannung, Erschöpfung und Sehnsucht nach Normalität. Das unterscheidet diesen Winter auch vom Jahreswechsel 2020/21, da hatten wir den Impfstoff. Noch nicht produziert, geschweige denn verteilt, und auch das sollte bekanntlich Monate dauern. Aber es gab die Möglichkeit einer Lösung, die denkbare Endlichkeit. Wir können nur dann Hoffnung schöpfen, wenn wir im Kopf das Szenario eines Ausweges haben. Das fehlt uns an diesem Weihnachten. 

Das Problem zeigt sich spiegelbildlich in den Staatshilfen. Der Staat muss wieder einmal mit dreistelligen Milliardensummen helfen – es ist aber eine Überbrückung ins Unbekannte. Die staatlichen Zuschüsse wirken auf mich deshalb noch monströser als in der Corona-Pandemie. Dort wussten wir: Die Schulden sind bitter, aber das Leben wird zurückkommen, wir werden wieder reisen, fliegen und in Kinos und Restaurants gehen. Die Hilfen waren tatsächlich eine Überbrückung. Nun müssen wir bis zu 200 Mrd. Euro aufwenden, vermutlich bis weit ins Jahr 2024, Riesensummen, die einmal durch den Schornstein gehen; Geld, dass nicht investiert, sondern buchstäblich verheizt wird. Und dann? Ist Energie dann wieder günstig?  

Drei Gedanken für 2023

Ich möchte Ihnen heute, trotz dieser Krisenknäuel und Beklommenheit drei Gedanken mit ins neue Jahr geben – denn die große Frage ist ja: Wie schauen wir auf 2023? Nur mit dem Filter der Krise, als würde man jedes Foto bei Instagram verdunkeln? Viele der Ausblicke und Szenarien werden seit Monaten begleitet und umhüllt von großen Worten: Wohlstandsverlust, Deindustrialisierung, Abstieg.  

Ist wirklich alles so schlimm und nur schlimm?  

  1. Es gibt Lichtblicke: Etwas verwundert haben wir die vergangenen Tage festgestellt, dass manche Zahlen besser sind als vermutet. Die Rezession könnte milder ausfallen. Ja, es könnte 2023 sogar ein kleines Wachstum geben, orakeln erste Ökonomen. Ich will die Probleme nicht kleinreden: Wenn Energie auf Dauer drei oder vier Mal so teuer bleibt, werden Fabriken runterfahren oder schließen. Das wird viele Menschen treffen, die ihren Job verlieren, es wird schmerzhafte Lücken und Verluste geben. In Summe wird die Krise am Arbeitsmarkt aber beherrschbar sein. Immer wieder haben zudem deutsche Unternehmen auch ihre Widerstandskraft und Anpassungsfähigkeit unter Beweis gestellt. Und der Lärm des Abstiegs ist lauter als die Musik der Anpassung und des Aufbruchs. Frei nach Mark Twain: Der Tod von Deutschlands Geschäftsmodell ist stark übertrieben. 
  2. Wir sind nicht mehr nur Getriebene: Seit März improvisieren wir bei unserer Energieversorgung. Kein großes Land war stärker getroffen durch den Energieschock, für kein Land stand mehr auf dem Spiel. Aber wir sind inzwischen „vor der Lage“, um mal einen Begriff aus der Pandemie zu borgen. Die Speicher sind voller als erhofft, der Energieverbrauch so niedrig wie seit 1990 nicht – was nicht nur daran liegt, dass Fabriken runterfahren, die Produktion war bis in den Herbst sogar gestiegen. Das schwimmende Terminal in Brunsbüttel ist bereit, Wilhelmshafen wurde feierlich eingeweiht. All das war verdammt teuer, aber geschah in einem Tempo, das man sich an anderen Stellen des Landes wünschen möchte. Daneben wurden zahlreiche Lieferverträge angebahnt oder abgeschlossen und Projekte geplant; endlich diversifizieren wir, machen uns nicht mehr von einem Lieferanten abhängig. 
  3. Und wir bewegen uns doch: Man kann nicht sagen, dass wir schon einen Masterplan haben, um die berühmten 500 Terrawattstunden Energie zu ersetzen, die wir nicht mehr aus Russland beziehen. Dazu fehlt uns zu oft der Pragmatismus, die Elastizität, die Coolness: Warum der Eiertanz bei der Kernkraft? Warum die Verblendung bei der Erschließung eigener Gasvorkommen? Andererseits boomt die Solarkraft, sogar ein Braunkohlekonzern will in Deutschland einen der größten Solarparks der Welt errichten. Der Anteil der erneuerbaren Energien am Strommix ist von gut 40 auf über 44 Prozent gestiegen. Und plötzlich denken die Grünen doch noch einmal nach, ob man nicht CO2 unter der Erde speichern darf, das so genannte „Carbon Capture and Storage“ (CCS).  Diese Technologie ist ein elementarer Baustein beim Umbau der Wirtschaft zur Klimaneutralität. Geht doch. 

Russland hat der Ukraine, aber auch anderen Ländern und sich selbst nur Leid und Zerstörung gebracht. Mit diesem Bild wächst eine ganze Generation auf: Russland raubt Land und Zukunft, Raum und Zeit. Und um diesen Kampf geht es eben auch: Russland mag Gebiete anderer Länder besetzen; man sollte aber nicht zulassen, dass es die Zukunft besetzt hält. 

Ein Jahreswechsel im Kalender ändert keine Lage, er ist eine künstliche Zäsur. Nur die Zahl „2023“ bringt keine neue Variable ins Spiel. Aber wenn wir auf das schauen, was wir seit März erreicht haben, sollten wir nicht nur mit hängendem Kopf ins Neue Jahr gehen. Es wird harte Entscheidungen geben, aber auch großartige Entscheidungen.  

Machen wir das Beste draus

Ich wünsche Ihnen ein frohes und gesegnetes Weihnachtsfest – lesen Sie keine Krisenticker, sondern gute Bücher. Spielen Sie mit Ihrer Familie und nicht auf dem Smartphone. Vergessen Sie, wer auf LinkedIn gerade einen supertollen neuen Job macht. Schauen Sie nicht auf den Füllstand der Gasspeicher, sondern in den Glanz der Kerzen.  

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