Noch fließt das Flüssiggas gar nicht, aber den kollektiven Seufzer der Erleichterung hört man seit dem Dienstag vergangener Woche in der ganzen Energiebranche und in den Industriekonzernen, die stark von Erdgas abhängig sind. Einige reden sogar von dem „Wunder von Wilhelmshaven“: Der erste deutsche Schiffsanleger für die Anlandung von Flüssiggas (LNG) ist nach weniger als 200 Tagen Bauzeit fertig. Noch im Dezember soll dort die schwimmende Wiederaufbereitungsanlage, ein Schiff mit dem seltsamen Namen Höegh Esperanza, anlegen, das ab Januar dann Erdgas in das deutsche Pipelinenetz einspeist.
Das erste Terminal in Wilhelmshaven und seine Schwesteranlagen in den anderen deutschen Häfen, die in den nächsten Jahren nach und nach hinzukommen, verändern die deutsche Energiebranche. Die Abhängigkeit von russischem Gas geht damit endgültig zu Ende und wenn alles so läuft wie geplant, endet damit auch die Zeit des Gasmangels, den Wladimir Putin bewusst als Waffe gegen den Westen eingesetzt hat. Spätestens 2024 kehrt Normalität auf den Energiemarkt zurück, vielleicht schon früher. Selbst wenn Russland dann keinen Krieg gegen die Ukraine mehr führt, gibt es aber kein Zurück zum Status quo Ante. Durch hohe Investitionen in die LNG-Wirtschaft und langfristige Lieferverträge wendet sich Deutschland wohl für immer von Russland ab.
Auch für Flüssiggas gilt, was für Pipeline-Erdgas galt: Wir brauchen den größten Teil nur noch für einen Übergang, bis wir fossile Energien endgültig durch Wind, Sonne und Wasserstoff ersetzen.
Keine automatische Deindustrialisierung
Was sich ändert, ist der Preis. Auch nach einer Normalisierung des Gasmarkts bleibt der Bezug von LNG deutlich teurer als der Bezug von Pipeline-Gas. Und auch das Pipeline-Gas, das wir künftig von anderen Lieferanten wie Algerien oder Kasachstan beziehen werden, fällt aller Voraussicht nach nicht wieder auf das Niveau vor dem Ukrainekrieg. Deshalb jammern einige große deutsche Industriekonzerne wie die BASF in diesen Wochen laut über den „Verlust der Wettbewerbsfähigkeit“. Und einige Lobbyisten reden gar von der „Deindustrialisierung“ Deutschlands.
Einige besonders stark energieabhängige Unternehmen wandern wohl wirklich ab, weil sie schon bisher nur mit geringen Gewinnmargen arbeiten und die höheren Preise nicht mehr verkraften. Aber von einer automatischen Deindustrialisierung durch den Verlust von billigem Russengas kann keine Rede sein, wie ein Blick nach Japan verrät. Der Inselstaat deckt seinen gesamten Erdgasbedarf durch LNG ab. 37 Terminals im ganzen Land fertigen Tag und Nacht die Tanker ab. Trotzdem überlebt Japans Industrie, von einem generellen Verlust an Wettbewerbskraft gegenüber der deutschen Konkurrenz konnte in den letzten Jahrzehnten keine Rede sein. Der Anteil der japanischen Industrie an der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung liegt in dem Inselstaat mit rund 30 Prozent sogar fünf Prozentpunkte höher als in Deutschland.
Die deutsche Industrie muss sich an die neue Lage anpassen – und sie wird sich auch anpassen. Einige Geschäftsmodelle geraten dabei unter die Räder – zum Beispiel bei der BASF, die immer noch auf ein breitgefächertes Angebot setzt und ihr entsprechendes Verbundprinzip nicht aufgeben will, statt auf einen höheren Spezialisierungsgrad zu setzen. Deshalb führt der Konzern den Jammerchor in Deutschland an. Auch um die Politik unter Druck zu setzen.