Erdgashauptstadt. So nennen die Russen Nowy Urengoi, die 100.000-Einwohner-Gemeinde fast 4000 Kilometer nordöstlich von Moskau. Man könnte sie aber auch Gazprom-City nennen. Denn so gut wie alles in der Stadt und um sie herum gehört dem Konzern. Dort liegt der Knotenpunkt des Pipelinesystems nach Westeuropa, das Gazprom zum größten und bis zum Überfall auf die Ukraine profitabelsten Unternehmen Russlands machte.
Nun fließt kaum noch etwas durch die Röhren. Und in Nowy Urengoi beginnt der Ausverkauf des halbstaatlichen Konzerns: Das Viersternehotel Jamburg, wo Wladimir Putin und Gazprom-Chef Alexej Miller einkehrten, soll für mindestens 1,6 Mrd. Rubel oder gut 15 Mio. Euro weg. Der Klotz an der Straße des Geologen mit seinen 68 Luxuszimmern, vier Suiten, zwei Bars und dem Bankettsaal gehöre „nicht mehr zum Kerngeschäft“, so heißt es offiziell. So wie 748 andere Vermögenswerte auch, die man nun im Verkaufsregister von Gazprom einsehen kann.
Über Jahrzehnte konnte sich der Konzern mit seinen Erdgasmilliarden in der russischen Wirtschaft ausbreiten. Seit Wladimir Putins Amtsantritt vor 25 Jahren schluckte Gazprom Erdölunternehmen, Telefongesellschaften, die größten Medien des Landes, Chemie- und Maschinenbaufirmen, Stadtwerke und Investitionsfonds. Im Inland betreibt der Konzern Dutzende Erholungsheime, Kliniken und die drittgrößte Bank. Im Ausland gehörten bis vor drei Jahren Dutzende von Pipelinebetreibern, Erdgasspeichern und Exportgesellschaften zum Imperium. Eine halbe Million Menschen arbeitet noch heute für den Konzern. Doch jetzt muss Gazprom sparen, um zu überleben. Im vergangenen Geschäftsjahr verbuchte der Konzern zum ersten Mal seit 25 Jahren ein Minus: fast 6 Mrd. Euro.
Der Verlust der Nord-Stream-Pipelines und die Sanktionen treffen Gazprom ins Mark. Die Unternehmensführung schafft es nicht, neue Absatzwege zu erschließen – zum Beispiel nach China und Indien. Die geplante Ausrichtung auf Flüssiggas (LNG) scheitert am Mangel an Produktionskapazitäten und Spezialschiffen. Und mit dem Antritt des neuen Präsidenten Donald Trump könnten die USA die LNG-Transporte fast ganz abwürgen. Gazprom sinkt dem Tiefpunkt seiner Geschichte entgegen.
Spätestens seit dem 23. Dezember schwant den Topmanagern, dass die Krise im Innersten des Konzerns angekommen ist. An diesem Tag machte das Direktionsschreiben mit der Nummer 11038355759 die Runde im Petersburger Hauptquartier des Konzerns. Die „Herausforderungen“ von Gazprom, schrieb Vizechefin Jelena Iljuchina, seien so „außergewöhnlich“, dass man die Zahl der Mitarbeiter in der Zentrale von 4100 auf 2500 reduzieren müsse. „Da hilft auch Erzengel Michael nicht weiter“, scherzt Oleg Kasukow* in Anspielung an eine 15 Tonnen schwere Skulptur im 88. Stock des Gazprom-Turms.
Gazprom ist Russland
Der ehemalige Gazprom-Direktor, der seit Jahren in Bayern wohnt, unterhält noch immer gute Beziehungen zu vielen Kollegen. Sie hätten sich daran gewöhnt, dass ihre Arbeitsplätze so sicher seien wie „Beamtenstellen in der Präsidialkanzlei“, sagt Kasukow. Gazprom ist Russland, Russland ist Gazprom – so hieß es seit der Geburt des Staats auf den Trümmern der Sowjetunion. Noch heute erinnere man sich in der Petersburger Zentrale gut an den früheren Gazprom-Vorstandschef Wiktor Tschernomyrdin, erzählt Kasukow. Nach dessen unerwartetem Aufstieg zum Regierungschef unter Putins Vorgänger Boris Jelzin ließ sich der Apparatschik noch lange jeden Tag den Druck in den Gasexportröhren zwischen Nowy Urengoi und der Übergabestation in Sudscha durchgeben. „Tschernomyrdin wusste genau“, sagt Kasukow: „Wenn das Erdgas nicht fließt, rollt bald der Rubel im ganzen Land nicht mehr.“