Als der Traditionskonzern ins Rutschen gerät, ist der Chef nicht greifbar. Bayer-Chef Manfred Schneider urlaubt an jenem 8. August 2001 auf Sylt und lässt sich auch danach zunächst nicht blicken. Stattdessen steht sein Finanzchef im Feuer: Milliardenklagen, die Aktie am Boden, die Pharmasparte in Gefahr – Werner Wenning stellt sich in London einer Investorenkonferenz, anschließend gibt er den ZDF-Nachrichten ein Interview.
Bayer hatte sich am Vortag entschieden, den Cholesterinsenker Lipobay vom Markt zu nehmen, den Hauptumsatzbringer der Pharmasparte des Konzerns. Das Medikament steht im Verdacht, Todesfälle ausgelöst zu haben. Bayer, heißt es, habe die Nebenwirkung Muskelschwund vertuscht. Ein Desaster.
Das ZDF sendet einen markanten Satz aus dem Wenning-Interview. „Die Anwendung von hochwirksamen Medikamenten ist immer mit Nebenwirkungen verbunden, die auch zum Tode führen können.“ „Bild“ fasst am nächsten Tag zusammen: „Skandal-Pille! Bayer-Manager verhöhnt Opfer.“
Mehr als 14.000 Schadensersatzklagen hagelt es allein in denUSA . Sie lähmen den Konzern jahrelang, bis er einen Vergleich über 1,1 Mrd. Dollar schließt. Bayers Rechtsabteilung wird im Zuge dessen zu einer der größten der Industrie aufgebläht. Heute hat sie mit den Glyphosat-Klagen alle Hände voll zu tun.
Wenning wird 2002 CEO und nimmt die Krise zum Anlass, den Konzern gründlich umzubauen: Er separiert das Chemiegeschäft, streicht die Pharmasparte zusammen, kauft Schering, streicht Tausende Stellen und den verbleibenden Mitarbeitern das traditionsreiche Konzernschwimmbad, bringt die M&A-Aktivität auf ein Volumen von 41 Mrd. Euro. Die Krise macht Bayer wieder stark. „Wer weiß, ob dieser sinnvolle Konzernumbau ohne den Lipobay-Fall so schnell durchsetzbar gewesen wäre“, bilanziert LBBW-Analyst Karl-Heinz Scheunemann. Wenning selbst fasst die Lipobay-Krise bei seinem Abgang von der Konzernspitze so zusammen: „Es war in der Tat ein Tiefschlag für das Unternehmen und der Beschleuniger für einige der späteren Veränderungen im Konzern.“
Heute, 2019, spricht Wenning mit Blick auf die Klagewelle nach der Monsanto-Übernahme von einem „Déjà-vu“. Doch ob die Sache wieder so verhältnismäßig glimpflich endet, ist nicht abzusehen.
Hauptperson
Werner Wenning geb. 1946, fängt mit 20 als Lehrling bei Bayer an und bringt es bis zum Chef – er ist der einzige deutsche CEO ohne Studium. Als 2001 der Skandal beginnt, ist er Finanzchef, 2002 rückt er an die Konzernspitze. Er bleibt bis 2010, 2012 wird er Aufsichtsratschef.