Nach Wahlen werden gern Zäsuren und neue Epochen ausgerufen oder eine Ära beendet. So war es 1998 mit dem Ende der „Ära Kohl“, die er wiederum 1982 mit der „geistig-moralischen Wende“ eingeleitet hatte. Und nach der Wahl 2009 bemühte Guido Westerwelle erneut die „geistig-politische Wende“. Wie groß dann tatsächlich die Zäsur oder Wende war, ist eine ganz andere Frage – manchmal versackte sie auch schnell im Alltag, den Mühen der Ebene oder der harten Wirklichkeit. Oder die Wende ging ganz anders aus.
Was neu ist an der Zäsur, die wir Sonntag erlebt haben, ist, dass sie weniger die Dynamik und Botschaft einer neuen Regierung unterstreichen soll. Sie bedeutet eine neue Spaltung: Die AfD ist nun im Bundestag, als größte kleine Partei, im Osten sogar als zweistärkste oder mancherorts als stärkste Kraft, und diese tektonische Verschiebung frisst seitdem allein 80 Prozent der entsetzten Nachwahlanalyse, mit verstörenden Bildern und denkwürdigen Sätzen. Verstörend und denkwürdig weil:
- Die SPD bejubelt Martin Schulz wie einen Wahlsieger und scheint entsetzt und erleichtert zugleich zu sein.
- Martin Schulz fängt erst in der Elefantenrunde mit Wahlkampf an.
- Mehrmals wird in Talkshows erinnert, dass die SPD sich 1933 im Reichstag gegen die Nazis stellte (Was hat das mit der Wahl zu tun?)
- Angela Merkel hätte sich gerne ein paar Prozentpunkte mehr erhofft
- Der Wahlsieger FDP findet es unverantwortlich, dass die SPD nicht mehr regieren will
- Keiner will so richtig mit Merkel („Ich als Bundeskanzlerin“) regieren
- Die AfD wird gefragt, ob sie im neuen Bundestag etwa provozieren will
- Aber alle freuen sich auf neue Debatten im Bundestag, als ob halb Deutschland jeden Tag stundenlang Phoenix schaut
Das war natürlich politische Schnappatmung nach der Wahl – denn so richtig uneingeschränkt gefreut hat sich nur die AfD. Bei Grünen und FDP spürte man im Jubel schon die Vorahnung der neuen Last der Verantwortung. Und bei der SPD im Schock auch ein seltsames Erlöstsein, der Absturz als Befreiungsschlag (Mit 25 Prozent hätte man weiter regieren müssen.)
Umso wichtiger ist es nun, in der Panik des Moments nicht in einen Modus der Panik zu verfallen, denn es gibt Wichtigeres als die AfD, und dazu sind fünf Erkenntnisse wichtig.
I. Wir gehören nun zur Normalität in Europa
Deutschland beendet einen positiven Sonderweg: Bisher konnten wir, wenn man die Linke mal ausklammert, reine Protestparteien aus dem Bundestag heraushalten. Unsere europäischen Nachbarn leben seit Jahren damit, kämpfen und streiten mit den Wahren Finnen, den Schwedendemokraten, der Dänischen Volkspartei, dem Front National in Frankreich, der UKIP in Großbritannien, der Lega Nord in Italien, der FPÖ in Österreich, der Partei für die Freiheit in den Niederlanden. Und dort spielen die Parteien oft schon in einer ganz anderen Größenliga. Nachdem, was Deutschland seit 2015 im Zuge der Flüchtlingskrise erlebt hat und noch einen größeren Teil als vermutet umtreibt, sind knapp 13 Prozent fast noch ein mildes Ergebnis. Was aber auch heißt: Wenn all diese kleinen und großen Länder mit populistischen Parteien einigermaßen fertig geworden sind, wird es Deutschland auch gelingen – ohne dass die SPD dauernd mit Tremolo an das Ermächtigungsgesetz erinnern muss.
Und man kann von diesen Ländern lernen. Die reflex- und phrasenhafte Distanzierung von Nationalismus und Rassismus als Ouvertüre jeder Talkshowsprechblase wird uns kaum bis 2021 tragen. Auch nicht die Phalanx der Empörung über jeden verirrten (oder eben doch wohl kalkulierten) Halbsatz eines AfD-Politikers. Muss man sich wirklich allem und jedem Quatsch „entschieden entgegenstellen“? Zumal die Empörung des „Establishments“, das sehen wir auch in den USA, die Reihen eher schließt: Dieser ganze Wust aus Pseudo-Skandalen und Entgleisungen der vergangenen Wochen, um Alice Weidels syrische Putzfrau und Schweinesystem-Mails, um Alexander Gaulands Entsorgungsfantasien und Jagdfieber, hat eher mobilisiert als abgeschreckt. Jetzt erst recht, denken die Anhänger dann, wir zeigen es euch.
II. Wir sind nur relativ gespalten
Deutschland zeigt sich nach der Wahl gespalten, ja. Aber es ist eine relative Spaltung, kein unheilbarer Riss und monströser Graben, der zwei Hälften trennt. Wenn man die Linkspartei dazuzählt, hat zwar mehr als jeder fünfte Wähler für Parteien am extremen Rand gestimmt. (Die Linke wird immer automatisch zu den „demokratischen Parteien“ gezählt – das Programm ist über weite Strecken auch abenteuerlich.) Der Rest aber hat für demokratische Parteien gestimmt, die FDP und Grüne wurden deutlich gestärkt.
Man muss nun aufpassen, dass man nicht jede Narration der Zerrissenheit, die wir etwa über die USA lesen, auf unser Land projiziert. Die politische Kultur kennt weiter Maß und Mitte, die politische Führung ist berechenbar, der Wohlstandszuwachs erreicht noch breite Schichten, die Institutionen sind intakt und nicht dysfunktional wie etwa in Washington. Die Spaltung ist nur auf einer Ebene besorgniserregend: in Ostdeutschland.
III. Die doppelte Entkopplung des Ostens
Wer auf die neue politische Landkarte schaut, sieht in Ostdeutschland ein anderes Bild: Von unten, über Sachsen, schiebt sich die AfD als stärkste Kraft mit Direktmandaten und Zweitstimmensiegen ins Land. Männer im Osten haben vor allem AfD gewählt (27 Prozent). Der Osten hatte sich schon früher entkoppelt: Die Linkspartei blieb hier immer stark, oft führend, als Protestpartei, aber auch in Verantwortung, in Thüringen stellt sie sogar den Ministerpräsidenten. Die SPD war in Ländern wie Sachsen schon länger auf das Niveau einer Kleinpartei geschrumpft; FDP und Grüne bildeten nicht so feste Milieus wie in Westdeutschland und flogen immer wieder aus den Landtagen.
Durch die AfD hat sich diese Entkopplung potenziert: Sie erzielte hier über 20 Prozent, in manchen Wahlkreisen wählte fast jeder zweite eine Partei am rechten oder linken Rand. Ostdeutschland droht das zu werden, was der „Rostbelt“ in den USA ist: Ein Landstrich, der sich in weiten Teilen chronisch abgehängt fühlt, und zwar nicht nur wirtschaftlich, sondern auch kulturell, irgendwie entfremdet und dauerwütend, und wer auf die USA schaut, lernt auch bald, dass dieses Gefühl nicht einfach verschwindet, sondern sich tief einnisten kann in den Köpfen. Daten ändern sich, Gefühle bleiben. Der Osten Deutschlands ist eine ganz eigene Herausforderung, der „Aufbau Ost“ bekommt eine ganz neue Bedeutung.
IV. Die Hybris und Katastrophe der Union
Seit der Wahl hat man den Eindruck, dass die CDU ihre eigene Katastrophe entweder nicht realisiert hat oder geschickt überspielt. Nach ihrem Schlafwagenwahlkampf, bei dem man den Veränderungswillen unter dem Mikroskop suchen musste, hat sie gestern ein Debakel erlebt, das sie nicht verarbeiten wird: Denn ihre ganze Kraft wird sie nun auf die schwierige Regierungsbildung verwenden und danach auf das Regieren. Die Katastrophe der CDU heißt nicht 1,36 Millionen Stimmen an die FDP, sondern eine Millionen Stimmen an die AfD.
Am ersten Tag nach diesem historischen Aderlass erklärte die Kanzlerin, dass dieser vermutlich mit ihrer Person zu haben, sie aber dennoch nichts ändern werde. Die CDU ist also strategisch gelähmt, obwohl sie weiß, dass die Post-Merkel-Ära am Sonntag endgültig begonnen hat. Aber wie soll sie sich ändern? Dazu fiel am Sonntag ein interessanter Satz: Alexander Gauland, einst bei der CDU, sagte, es sei nicht mehr die Partei, die er kenne, die von Manfred Kanther und so weiter. Aber die Union kann doch nicht ernsthaft eine Partei aufbauen wie vor 30 Jahren, damit ein 76-Jähriger seine Sehnsucht nach einem Innenminister gestillt sieht, der vor 20 Jahren abgewählt wurde? Die Union ist bereits genauso in der Abgrenzungsfalle zur AfD wie die SPD zur Linkspartei. Der Kampf um die Mitte mit dem System der asymmetrischen Mobilisierung ist für die CDU erstmals zu einem Nettoverlustspiel geworden. Sie ist in einem Strategieloch.
Die CSU hat diese Katastrophe sofort begriffen – leibhaftig zu sehen in der gespenstisch bleichen Erscheinung Horst Seehofers am Wahltag. Aber auch die Christsozialen sind weit von einer Lösung entfernt.
V. Eine gute Wirtschaft allein reicht nicht
In den ARD-Umfragen unter Wählern sagten 84 Prozent, dass die wirtschaftliche Lage in Deutschland gut ist, zehn Prozentpunkte mehr als 2013. Ähnlich hohe Werte gaben Wähler über ihre persönliche Situation an. Sogar 72 Prozent der AfD-Wähler bezeichnen ihre wirtschaftliche Lage als gut. Diese Werte, das zeigen auch frühere Umfragen und Studien , sind auf Rekordhöhe. Und man sollte jetzt auch nicht so tun, als ob die Mehrheit in Deutschland unzufrieden ist.
Aber guten Wirtschaftsdaten reichen offenkundig nicht – die Angst vor Zuwanderung, Flüchtlingswellen oder dem Islam, das zeigen auch Erfahrungen aus der Schweiz oder Australien, kann stärker sein. Das Leben vieler Mensch wird dann sorgenfrei und sorgenvoll zu gleich; es kann Vollbeschäftigung herrschen und trotzdem die Verlustangst zunehmen. Auch das zeigten die Nachwahlbefragungen : 70 Prozent machen sich Sorgen, dass die Gesellschaft auseinanderdriftet, 62 Prozent, dass die Kriminalität stärker zunimmt, und fast jeder zweite hat Sorge, dass der Einfluss des Islams zu stark wird.
Der Wohlstand in Deutschland ist konkret geworden, Sorgen eher abstrakt: Sie sind oft nicht im Alltag, in Geldnöten oder Überlebenskämpfen, sondern eher in Gefühlen und Projektionen über die Zukunft.
SPD und CDU äußern seit einiger Zeit, dass man „die Sorgen der Menschen ernst nehmen“ müsse – und da fragt man sich nicht nur, ob sie es wirklich tun, sondern was sie denn tun, wenn sie sie ernst nehmen. Die Angst vor Arbeitslosigkeit verflüchtigt sich im Aufschwung oder wenn man einen neuen Job hat; die Angst vor dem Islam oder Flüchtlingswellen aber ist schwerer aus den Köpfen zu bekommen – und sie kann sich verselbständigen.
Was folgt aus all dem?
Wir sollten uns die kommenden Jahre nicht von der AfD diktieren lassen. Um es mit dem CDU-Slogan zu sagen: Wir müssen in dem Land auch mit Wut noch gerne leben. Es wird kompliziert und etwas lauter, anstrengender und manchmal roher, aber mit ein wenig Optimismus kann das neue Deutschland, in dem wir am Montag aufgewacht sind, sich auch positiv verändern; es kann lebendiger, aufregender und streitbarer werden – und widerstandsfähiger. Und wenn es dabei im Bundestag mal flegelhaft oder laut zugeht, sollte man nicht nur Phoenix schauen, sondern, mit Verlaub , alte Bundestagdebatten auf Youtube.