Der Industrie- und Gewerbepark Pankow-Heinersdorf ist kein schlechter Ort, um unentdeckt zu bleiben. 30 Minuten braucht man vom Alexanderplatz in den Berliner Nordosten, es geht vorbei an Schrebergärten, an Autowerkstätten und Schrotthändlern. Schließlich: ein dreistöckiger Verwaltungsbau an einer Ausfallstraße, flach, unscheinbar. Hier ist es. Von hier aus wurde in aller Heimlichkeit Deutschlands wertvollstes Start-up aufgebaut. Ein Gebrauchtwagenhändler.
Heute, weniger als sieben Jahre nach Gründung von Auto1, ist das Unternehmen 2,9 Mrd. Euro wert, mit 4200 Mitarbeitern in 30 Ländern präsent und handelt über seine Internetplattformen mit 1500 Fahrzeugen am Tag. Kein Start-up in Deutschland ist je so schnell so groß geworden, nicht einmal Zalando. Den Gebrauchtwagenmarkt in Europa hat Auto1 auf den Kopf gestellt.
Trotzdem kennt kaum jemand das Unternehmen. Das liegt zum einen daran, dass es hierzulande unter der Marke Wirkaufendeinauto.de auftritt. Vor allem aber hat es mit der Geheimniskrämerei der Gründer zu tun: Noch heute scheuen Hakan Koç und Christian Bertermann die Öffentlichkeit, Interviews und Auftritte kann man an zwei Händen abzählen. Die ersten drei Jahre blieben sie sogar komplett unterm Radar – im „Stealth Mode“, wie es im Start-up-Sprech heißt. Aus Angst vor Nachahmern verschanzten sie sich am Berliner Stadtrand. Von hier steuerten sie das Wachstum; planvoll, aggressiv, in beispiellosem Tempo und ohne Rücksicht auf Verluste. Auf dem Weg nach oben hat sich das Start-up damit nicht nur Freunde gemacht.
Berlin-Kreuzberg, heute. Die Zentrale von Auto1 erstreckt sich mittlerweile auf drei Etagen eines ehemaligen Postamts. Die Gründer bitten zum Gespräch, auch wenn man merkt, dass ihnen Interviews noch immer eine lästige Übung sind. Bertermann, schlank, glattrasiert, ein reservierter Typ; Koç, füllig, mit Dreitagebart, erlaubt sich auch mal einen Witz. Über die Anfänge ihres Milliarden-Start-ups sagt er: „Wir wollten ein Problem lösen. Nämlich: Wie werden wir diese Autos wieder los?“
Diese Autos, das sind ein Mercedes 190 und ein Golf IV, sie gehören Bertermanns Großmutter, und der Enkel soll ihr im Sommer 2012 helfen, die Gebrauchtwagen zu verkaufen. Koç und Bertermann haben gerade ihre Jobs bei zwei Firmen aus dem Rocket-Internet-Universum der Samwer-Brüder gekündigt, jetzt wollen sie gemeinsam etwas Neues wagen. Was, ist noch nicht klar. Sie basteln an einer App, denken über einen Getränkelieferdienst nach. Dann tauchen die Gebrauchtwagen auf – und die typischen Ärgernisse beim Verkauf: Man muss Händler anrufen, Termine vereinbaren, nach einem guten Preis suchen. Ja, es gibt Kleinanzeigenportale wie Autoscout24, aber auch dort kostet der Verkauf Zeit, und oft melden sich halbseidene Gestalten. Von der transparenten, kundenfreundlichen E-Commerce-Welt, die Koç und Bertermann kennen, ist das alles weit entfernt. Ein Problem, das nach Lösung schreit.
Cash ist King bei Auto1
In einem Zehn-Quadratmeter-Büro entwickeln sie darum den ersten Baustein von Auto1: ein Portal, über das man Gebrauchtwagen verkaufen kann – und zwar nicht an irgendeinen Dritten, sondern an das Start-up selbst. Wirkaufendeinauto.de übernimmt anschließend die Käufersuche und verdient an der Preisdifferenz. Das Versprechen: Wer sein Auto loswerden will, muss sich um nichts mehr kümmern und sieht innerhalb weniger Tage sein Geld.
Dafür aber muss das Start-up weiter gehen als die meisten Online-Marktplätze – es muss die Ware selbst ankaufen. Das ist unüblich in der Techbranche und wird von Investoren nicht geschätzt: „Das Geschäftsmodell hat ein relativ hohes Risiko“, sagt Filip Dames von Cherry Ventures, einem der ersten Geldgeber von Auto1. „Wenn du die Autos nicht verkaufst, hast du viel totes Kapital auf dem Hof stehen.“ Aber die Gründer hätten schnell verstanden, wie so ein Modell funktionieren kann: „Es geht über Schnelligkeit und Volumina. Du musst sofort kaufen. Cash ist King.“
Also los. Sie investieren etwas Geld in Online-Marketing, das bringt Interessenten, die klappern sie persönlich ab. Dazu müssen Händler abtelefoniert werden. Einen Nissan Micra, eingekauft für 180 Euro, schlagen sie am gleichen Abend für 240 Euro los. Bei einem Arzt werden sie zum Tee gebeten, sie nehmen einen Renault Kangoo mit. Deal. „Als wir gemerkt haben, das funktioniert, haben wir uns den Markt angeschaut“, erzählt Bertermann. „Und wir haben schnell festgestellt, dass wir hier einen riesigen Markt haben. Einen der größten überhaupt.“ Mehr als 350 Mrd. Euro in Europa, sieben Millionen Besitzumschreibungen allein in Deutschland jedes Jahr. „Da dreht sich viel“, sagt Koç. „Und überall, wo viele Transaktionen sind, kann man mit unserem Modell einen Mehrwert bieten.“
Denn auch auf der Seite der Abnehmer, der Händler, gibt es Probleme zu lösen: Die Beschaffung von Gebrauchtwagen ist umständlich; die Wagen, die zu bekommen sind, passen nicht immer zu dem, was die Kunden gerade suchen. Ein Vierteljahr nach Wirkaufendeinauto.de entsteht daher der zweite Baustein von Auto1: eine Internetplattform, auf der Händlern die angekauften Wagen angeboten werden.
Sie haben jetzt ein Modell, das beide Seiten perfekt zueinander bringt. Und das Auto1 eine ideale Position in der Mitte verschafft: Sie wissen, was der Markt will und was die Kunden haben. Darauf könnte sich etwas richtig Großes aufbauen lassen, das zeigen auch schon die ersten Zahlen. 224 Autos verkaufen sie im ersten Jahr, im zweiten sind es schon 4000.
Die Idee ist heiß – so heiß, dass man sie besser für sich behalten sollte. „Alle waren sich einig, dass ein gewisses Risiko besteht, dass so ein Modell kopiert werden könnte“, sagt Dames. Ausgefeilte Technik, die Auto1 einen Vorsprung verschaffen würde, gibt es noch nicht. Es geht erst einmal nur um eine effiziente Umsetzung der Idee. Etwas, das auch die Samwer-Brüder machen könnten – leicht zu kopierende Ideen sind genau ihr Beuteschema. Also verzieht sich Auto1 2013 an den Stadtrand, auf dem Parkplatz nebenan wird die erste Wirkaufendeinauto.de-Filiale eröffnet. Mit der Marke machen sie bald sogar TV-Werbung, über das Start-up dahinter wird Investoren und Umfeld aber Stillschweigen verordnet.
Im Geheimen rollen sie das Geschäft aus, eröffnen Ankaufstellen in Gewerbegebieten in ganz Deutschland, ab 2014 auch im europäischen Ausland. Die „heilige Zahl“, sagt Koç, sind 20 bis 25 Prozent Wachstum pro Monat. Irre ambitioniert, aber sie kriegen es hin. Der unbedingte Wille der beiden Gründer beeindruckt fast alle, die mit ihnen zu tun haben. In Zalando-Kreisen kursiert über Koç die Anekdote, dass er einmal bei einem Lagerverkauf an der Kasse aushalf – und doppelt so viel Umsatz wie die anderen machte. „Er war einfach schneller, hat die Leute so durchgepeitscht“, sagt einer, der dabei war.
2015 wird Auto1 mit 1 Mrd. Dollar bewertet, und die Gründer glauben sich nun weit genug, um die Welt mehr über sie erfahren zu lassen. Im November präsentieren sie sich auf einer Investorenkonferenz in London. „Wir sind“, sagt Bertermann, „das derzeit schnellstwachsende Unternehmen in Europa.“ 100.000 Autos habe man in den ersten drei Quartalen verkauft – mehr als dreimal so viel wie im gesamten Vorjahr. Auto1 ist in 20 europäischen Ländern und testet den US-Markt.
„Wir haben einen klaren Weg vor uns, um die volle Wertschöpfungskette unter Kontrolle zu bekommen“, kündigt Bertermann an. „Das bedeutet 20, vielleicht 30 Prozent Marge. Wer uns dabei folgen möchte, ist eingeladen, das zu tun.“ Mehr Kapital einzuwerben gelingt in der Folge problemlos. Über 1 Mrd. Euro stecken heute im Unternehmen, etwa vom 100 Mrd. Dollar starken Vision-Fonds von Japans Techkonzern Softbank, der die Auto1-Bewertung 2018 auf 2,9 Mrd. Euro getrieben hat. Das Wachstum ist nun nicht mehr so gigantisch wie anfangs, aber noch immer hoch.
Doch gerade der Weg zu den in London versprochenen Traummargen stellt sich als steiniger heraus als gedacht. Mit dem Kerngeschäft – der Ankauf über die inzwischen 400 Filialen und dem Verkauf an europaweit 55.000 Händler – ist nur dann etwas zu verdienen, wenn man die Preisdifferenz groß machen kann. „Das ist keine Cashcow“, sagt ein ehemaliger hochrangiger Mitarbeiter. „Das ist ein Geschäftsmodell auf Messers Schneide.“ Ein wichtiger Berliner Geldgeber sagt: „Die gehen ziemliche Risiken ein, um das Umsatzwachstum so hoch zu halten. Das ist extrem auf Kante genäht.“
Den Druck, erzählen mehrere Wegbegleiter, geben die Gründer nach unten weiter. „Es war so: Entweder du funktionierst und machst, was sie wollen – oder du kannst gehen“, erzählt einer. In der Verkaufsabteilung habe eine Atmosphäre geherrscht „wie auf dem Bolzplatz“, berichtet ein anderer. „Die haben sich schon morgens angeschrien.“ Wieder ein anderer sagt: „Alles wurde dem Erfolg untergeordnet. Da wurden die Mitarbeiter nicht massiert, damit sie besonders kreativ sind. Es hieß: Friss oder stirb.“
Um das Wachstum beizubehalten, geht Auto1 ständig an die Grenzen. Für Kritik sorgt etwa die Masche, privaten Autoverkäufern online einen hohen Preis in Aussicht zu stellen – um ihn dann nach der Überprüfung in einer Filiale deutlich zu senken. „Das sind Lockvogelmethoden“, kritisiert Ansgar Klein vom Verband freier Kfz-Händler (BVfK). „Die Preise, die in Aussicht gestellt werden, werden selten realisiert.“ Auto1 verweist darauf, dass der Onlinepreis nur „zur ersten Orientierung“ diene. Deshalb seien Abweichungen möglich – die „übrigens auch in beide Richtungen gehen – nach oben wie nach unten“.
Ein Unternehmensinsider erzählt jedoch, dass die Lockvogelmethode System hatte. „Bei der Bewertung wurde versucht, das Auto so mies wie möglich zu machen, damit du es billig ankaufen kannst. Da gab es Leute, die aus Notsituationen heraus ihr Auto verkaufen mussten. Das wurde ausgenutzt.“
Auch vonseiten der Händler gibt es immer wieder Kritik am Geschäftsgebaren von Auto1, etwa, dass Mängel an Autos beim Weiterverkauf verschwiegen würden: „Fehlen der vereinbarten Klimaanlage; Schiefstand der Achse/Sicherheitsmängel; nicht zugelassene Bereifung; defekter Kühler“, zählt eine interne Aufstellung der BVfK-Rechtsabteilung Beispiele auf. Die Liste ist lang. Zwar sei die Zahl der registrierten Beschwerden seit 2018 tendenziell gesunken und inzwischen „nicht höher als bei vergleichbaren Plattformen“, schränkt der Verband ein. Beim Umgang mit Reklamationen bleibe Auto1 aber „ziemlich rüde“, klagt ein Vertreter des Handels. Kulanzzahlungen fielen „eher gering aus oder werden unter Verweis auf den vereinbarten Gewährleistungsausschluss vollständig zurückgewiesen“, so der BVfK.
Vor allem in den wachstumsintensiven Jahre vor 2018 kam die Qualitätskontrolle beim Einkauf offenbar häufig zu kurz. In einer Filiale mit drei Mitarbeitern, die im Schichtsystem arbeiten, müssten täglich 40 bis 50 Autos geprüft werden, berichtet ein Ankäufer. „Ein Auto besteht aus 10.000 Teilen, da kann man nicht in 30 Minuten wissen, wie der Zustand ist“, kritisiert ein ehemaliger Mitarbeiter. Teilweise habe Auto1 jeden Werktag eine neue Garage eröffnet. „Wir haben händeringend neue Ankäufer gesucht“, berichtet ein anderer. „Aber das ist ein harter Job, und die Fluktuation ist hoch.“ Das Unternehmen sagt dazu, der Vorwurf unzureichender Kontrollen sei „unbegründet“. Jedes Fahrzeug werde „im Rahmen eines umfangreichen und standardisierten Verfahrens“ untersucht.
Langfristig, das ist klar, kann das Modell Auto1 nicht funktionieren, wenn man auf der einen Seite unzufriedene Kunden und auf der anderen misstrauische Händler hinterlässt. Wohl auch damit erklärt sich, warum Auto1 seit einiger Zeit die Wachstumsbremse gezogen hat. Eine Expansion über Europa hinaus liegt auf Eis. Das Experiment USA wurde schon früh abgebrochen, der von großen Handelsketten bestimmte Markt ließ sich nicht so einfach aufmischen wie die kleinteilige Branche in Europa. Auch Entwicklungsländer sind kaum interessant, weil die Autos dort noch billiger und damit die Margen noch geringer sind. Und obwohl Softbank beim Einstieg ankündigte, Auto1 „in ein globales Unternehmen verwandeln“ und nach China und Japan bringen zu wollen, hat man davon Abstand genommen. Wohin kann die Reise also noch gehen?
Vorbild Amazon
„Es gibt noch viele spannende Bereiche, in die man vorstoßen kann“, sagt Dames. Um das eigentliche Geschäftsmodell hat Auto1 begonnen, mit immer neuen Angeboten die Abhängigkeit vom Kerngeschäft zu verringern. Das fing schon 2015 an, als Händlern ermöglicht wurde, ihre Wagen ebenfalls auf die Plattform einzustellen. Später kam ein Portal hinzu, über das Autobesitzer ihre Wagen von privat an privat verkaufen können, gegen eine Fixgebühr hilft Auto1 dabei. Mit Bankpartnern bietet das Start-up Händlern Finanzierungslösungen an.
Die Gründer sagen, diese ausufernde Produktwelt sei nie generalstabsmäßig geplant gewesen, sondern „am Bedarf der Kunden“ entwickelt, so Koç. Inzwischen bietet Auto1 nicht nur neu entwickelte Produkte an, sondern vermietet seine bestehende Infrastruktur, etwa die Logistik- oder Auktionsplattform, an andere. Man orientiere sich da an Amazon, erklärt Koç: Der Konzern hat das Prinzip perfektioniert, aus der eigenen Wertschöpfungskette immer neue, teils hochprofitable Businesses auszukoppeln.
Gut möglich, dass all das zu den vorbereitenden Maßnahmen für den nächsten großen Schritt in der Entwicklung von Auto1 gehört: den Börsengang. Denn der wird irgendwann kommen, kommen müssen. Der Softbank-Einstieg hat die Notwendigkeit eines IPOs noch einmal hinausgezögert. Doch die Investoren werden auf einer Möglichkeit zum Exit bestehen, interne Überlegungen dazu gibt es seit zwei Jahren, so ein Insider. Bis dahin darf Auto1 aber noch gewohnt verschwiegen weiterverfahren.
Im November ließ sich Hakan Koç von einer Bloomberg-Journalistin live im Fernsehen interviewen. Die erste Frage lautete: „Sind Sie schon profitabel?“ Koç lachte laut. Dann sagte er: „Wir sind ein privat gehaltenes Unternehmen. Wir machen keine Zahlen öffentlich.“
Der Beitrag ist in Capital 07/2019 erschienen. Interesse an Capital? Hier geht es zum Abo-Shop , wo Sie die Print-Ausgabe bestellen können. Unsere Digital-Ausgabe gibt es bei iTunes und GooglePlay