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Kolumne Asiens Griechenland

Indien steht am Scheideweg. Wenn die Regierung nicht endlich die überfälligen Reformen angeht, drohen auf dem Subkontinent griechische Verhältnisse. Von Martin Kaelble

Nach schweren Monaten können viele Schwellenländer durchatmen: In den vergangenen Tagen gab es eine Reihe hoffnungsvoller Konjunktursignale quer durch Asien. Ob in China, Indonesien, Korea oder Taiwan – überall deuten Frühsignale nun auf Besserung. Die kleine Asienkrise des Jahres 2013 scheint sich zu entspannen. Nur in einem Land bessert sich die Lage nicht: In Indien. Produktion und Neuaufträge sind dort im Oktober weiter gefallen. Der Preisdruck hat zugleich nochmals zugenommen, was die Zentralbank zu neuerlichen restriktiven Maßnahmen zwingen dürfte. Mittlerweile ist es so schwer in Indien an Kredite zu kommen, wie zuletzt direkt nach der Lehman-Krise. Es besteht kaum noch ein Zweifel: Indien steckt in der schwersten Krise seit dem scharfen Einbruch 1991.

Dabei geht es nicht allein um den kurzfristigen konjunkturellen Abwärtssog, in den das Land immer stärker gerät. Indiens Problem ist, dass es jahrelang Reformen verschleppt hat, mit denen das Land nun deutlich besser für die Krise gewappnet wäre. Wenn es ganz schlecht läuft, droht Indien eine Art asiatische Variante Griechenlands zu werden.

Natürlich lässt sich ein riesiges Schwellenland wie Indien nicht direkt mit einem entwickelten Euro-Staat wie Griechenland vergleichen. Doch in zwei Punkten gibt es deutliche Krisen-Parallelen: Beim über Jahre verschleppten Reformstau und beim Zwillingsdefizit.

Da ist zum einen das enorme Leistungsbilanzdefizit. Im Gegensatz zum benachbarten Exportweltmeister China, schöpft Indien beim Außenhandel sein Potenzial nicht aus. Während in weiten Teilen Asiens von Korea bis nach Südostasien exportstarke Wirtschaften Überschüsse erzielen, muss Indien mehr Waren einführen als es ausführt. Diese Schieflage in der Leistungsbilanz hat schon viele Nationen in Schwierigkeiten gebracht - von Südamerika bis zuletzt nach Südeuropa. Und in Indien hat die Schieflage rasant zugenommen.

Agenda-Reformen sind notwendig

Hinzu kommt ein bedrohliches Budgetdefizit beim Staatshaushalt von rund zehn Prozent des BIP in den vergangenen Jahren. Ein Hauptproblem liegt dabei in der ungenügenden Steuereintreibung. Nur ein Beispiel: Gerade einmal drei Prozent der Inder bezahlen überhaupt Einkommensteuer (die meisten von ihnen stecken gar nicht in formalen Arbeitsverhältnissen).

Indien braucht im Prinzip Agenda-Reformen von gigantischen Ausmaßen. Zwischen 2003 und 2008 in der Boomphase wäre es einfacher gewesen als jetzt, solche Reformen durchzusetzen. Doch damals herrschte Genügsamkeit. Das rächt sich nun.

Reformbemühungen der Regierung von Premierminister Manmohan Singh verkümmerten stets bereits im Ansatz. Auch Sonia Gandhi, Chefin der regierenden Kongresspartei und damit die eigentliche Macht hinter Singh, sah wohl viel zu spät ein, dass Reformen dringend notwendig sind. So war es auch beim Versuch, den Einzelhandelssektor vom Protektionismus zu befreien. Singh knickte bald ein – nach massiven Protesten in und vor dem Parlament, angeführt ausgerechnet von seiner wichtigsten Koalitionspartnerin Mamata Banerjee.

Dabei war es ausgerechnet Singh, der als Finanzminister 1991 Vater der wichtigsten indischen Reformen der jüngeren Vergangenheit war. Er sorgte maßgeblich für die damalige Öffnung der indischen Wirtschaft – und leitete damit, einige Jahre nach Chinas Aufbruch, eine Phase des Booms auch für Indien ein.

Indien ist eine Baustelle

Nun hat sich die Wachstumsdynamik dramatisch abgeschwächt. Sie lag zuletzt nur noch bei vier bis fünf Prozent und hat sich damit seit den Boomzeiten quasi halbiert. Vor zwei Jahren waren es noch fast elf Prozent. Die Zeit der Genügsamkeit ist damit eindeutig vorbei.

Die Zahl der Baustellen für Strukturreformen ist enorm. Die Infrastruktur ist marode. Ausländische Investoren werden durch die strikte Regulierung abgeschreckt – oder direkt per Gesetz ausgeschlossen. Subventionen müssen dringend gekürzt, Handel-, Energie- und Luftfahrtbranche geöffnet, einige Staatsbetriebe privatisiert werden.

Singh sollte vor allem dringend mehr Transparenz und Rechtssicherheit für Investitionen aus dem Ausland schaffen – etwa bei der Vergabe von Entwicklungsland sowie dem Betrieb von Minen. Ebenfalls überfällig ist eine Reform des Arbeitsmarkts. Eine strenge Regulierung verhindert dort Einstellungen. Im Gegensatz zu europäischen Ländern ist die Ausgangslage dabei eine ganz andere: Neun von zehn Indern arbeiten außerhalb formaler Arbeitsverhältnisse. Für fast jeden Inder gilt also der gut gemeinte Schutz ohnehin nicht. Eine Reform, die es für Firmen attraktiver macht, Arbeitskräfte in formal geregelte Beschäftigungsverhältnisse zu führen, ist überfällig.

Marode Infrastruktur

Auch eine behutsame Öffnung des Finanzsektors für ausländische Kapitalgeber wäre nützlich – um Infrastrukturinvestitionen auch mithilfe von ausländischem Kapital weiter zu beschleunigen. Denn hier liegt weiterhin die größte Schwachstelle im Vergleich zu China – der Zustand der Straßen, der Eisenbahn, der Häfen, des Energienetzes.

Schließlich muss die Bekämpfung der Korruption viel energischer angegangen werden, so wie es in China derzeit der Fall ist. Auch das ist elementar, um mehr ausländische Investoren anzuziehen und Infrastrukturprojekte voranzutreiben.

Immerhin: Etwas Hoffnung steckt selbst in der Krise. Auf den tiefen wirtschaftlichen Einbruch von 1991 folgte das wichtige Reformpaket Singhs. Läuft alles gut, könnte auf die Wahlen im Mai 2014 etwas Ähnliches folgen und endlich der seit Jahren erhoffte neue Reformschub kommen. Läuft es schlecht, hat Asien vielleicht bald sein eigenes Griechenland.

Zu den letzten Kolumnen von Martin Kaelble: Das China-Experiment, Ich wette auf Griechenland, Apfel statt Zuckerbrause, und Keine Zeit zum Ausruhen, Kanzlerin

E-Mail: Kaelble.Martin@capital.de

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