Gastbeitrag 5 Mythen über China

"Made in China" soll zum Gütesiegel werden
"Made in China" soll zum Gütesiegel werden
© dpa
Mit einer EU-Delegation hat Katja Nettesheim im Frühsommer fünf chinesische Städte besucht. Die Reise hat ihr Bild von China grundlegend geändert. Hier räumt sie mit häufig zu hörenden Mythen über die Volksrepublik auf

#1 „Chinesen können doch nur kopieren“

Chinesische Unternehmen haben seit langem den zweifelhaften Ruf, erfolgreiche Produkte, Marken und Geschäftsmodelle aus dem Westen zu kopieren und mit nur geringen Modifikationen auf dem eigenen Markt zu vertreiben. Ein solches Phänomen ist bekannt als „Shanzhai“, ein chinesischer Begriff, der ursprünglich verwendet wurde, um von Banditen belagerte Dörfer außerhalb der Regierungskontrolle zu beschreiben. Seit der Öffnung Chinas für die internationalen Märkte wurde die Bezeichnung im Zuge einer steigenden Produktpiraterie zum Inbegriff gefälschter Ware und des Diebstahls geistigen Eigentums. Und es ist tatsächlich auffällig, wie stark chinesische Unternehmen sich an westlichen zu orientieren scheinen – so gab es schon früh genaue Abbilder von „Nokir“- oder „Samsing“-Telefonen. Aber chinesische Unternehmen machen mehr, als nur funktionierende Modelle zu übernehmen – sie machen sie häufig besser. So habe ich mit eigenen Augen auf den Elektronikmärkten iPhones gesehen, die mit dem aus Sicht der Chinesen überlegenen Betriebssystem Android laufen. Diese Dekonstruktion und Verbesserung der Originale ist tief in der chinesischen Tradition verankert und schon in den antiken Meisterwerken zu finden. Es ist ihre Art von Innovation, was auch das aus westlicher Sicht häufig fehlende Unrechtsbewusstsein erklärt.

Durch Kopieren und Verbessern oder Kombinieren entsteht so statt einer einfachen Kopie etwas Neues und Eigenständiges. Und tatsächlich holt China bei der Anzahl auch eigenständiger internationaler Patentanmeldungen auf. So war die Volksrepublik 2017 auf dem zweiten Rang der internationalen Patentanmeldungen bei der WIPO (hinter den USA, aber mit geringem Abstand), und hat damit in einem weiteren Rekordjahr Japan von diesem Platz verdrängt. Unter den Top-15-Herkunftsländern verzeichnet China als einziges Land ein zweistelliges jährliches Wachstum (+ 13,4%) – zweistellig ununterbrochen seit 2003.

#2 „China ist doch noch lange nicht auf unserem Entwicklungsstand“

Ein weiterer Mythos über China drückt sich in einer gewissen Arroganz westlicher Länder aus, wenn es darum geht, ob China langfristig ein ernstzunehmender Konkurrent ist. So wird China häufig noch immer als Entwicklungsland betrachtet, das, um auf Höhe westlicher Wirtschaftsmächte zu gelangen, noch einiges nachzuholen hat. Dabei sieht die Realität mittlerweile ganz anders aus. Gerade Städte wie Peking, Schanghai und besonders Shenzhen und Guangzhou bringen immer mehr Innovationen hervor und besitzen eine Infrastruktur, die man auch als Deutscher nur beneiden kann. Auch das Konzept von Effizienz-Enklaven, also Städten, die ein Sammelbecken für bestimmte Spezialisierungen darstellen, sowie das pragmatische Konzept der Pilot-Städte, in denen politische und institutionelle Innovationen ausprobiert werden, bieten ein Innovationspotential, das dem westlicher Länder in nichts nachsteht, wenn nicht sogar überlegen ist.

#3 „Made in China kann made in Germany nicht das Wasser reichen“

Die Gütesiegel „made in Germany“ und „made in China“ stellen auf den ersten Blick vermeintlich einen starken Gegensatz dar. Wahrscheinlich denken auch Sie auf der einen Seite an hohe Qualität, geringe Fehlertoleranz und extreme Genauigkeit, auf der anderen Seite an „schnell, billig, viel“. Auch in China selbst funktioniert die Marke „made in Germany“ ausnehmend gut. Denn China kann mittlerweile nicht nur „billiger“, sondern oft auch „besser“. Besonders gut zu beobachten ist das anhand des Smartphone-Marktes. Hier hat Huawei den Kampf mit Unternehmen wie Apple oder Samsung aufgenommen – und schlägt sich gut. So erklärte CEO Richard Yu erst kürzlich, man wolle mit kompromisslos guter Qualität nicht nur Apple überholen, sondern auch die koreanische Samsung als größten Smartphone Hersteller ablösen. Und tatsächlich: Laut vorläufigen IDC-Daten hat Huawei im zweiten Quartal 2018 54,2 Millionen Mobiltelefone ausgeliefert, was einem Wachstum von 40,9 Prozent gegenüber dem Vorjahr entspricht. In der Zwischenzeit hat Apple „nur“ rund 41,3 Millionen Einheiten ausgeliefert, was einem Wachstum von 0,7 Prozent gegenüber dem Vergleichszeitraum des Vorjahres entspricht. „Made in China“ ist also nicht mehr zwangsläufig ein Warnhinweis, sondern entwickelt sich unter der Strategie „made in China 2025“ immer mehr zum ernstzunehmenden Siegel für Innovation – das auch „made in Germany“ gefährlich werden kann.

#4 „Die Chinesen sind wahnsinnig effiziente Arbeitsbienen“

Hier muss man differenzieren: Arbeitsbienen ja, aber nicht unbedingt effizient. So haben mir viele – gerade in so aufstrebenden Städten wie Shenzhen - davon berichtet, dass die Menschen bis zur Gesundheitsgefährdung arbeiten. Mitunter deswegen, weil die Zulieferindustrie rund um diese Stadt so schnell ist, dass man auf Prototypen und überarbeitete Versionen nie lang warten muss. Offensichtliche Ausprägung dieser Arbeitswut sind die zu sehr frühen und sehr späten Zeiten stattfindenden Pendelströme – und die allerorts in der Öffentlichkeit abgehaltenen Nickerchen. Aber effizient? Ich weiß nicht recht… Manchmal hat man den Eindruck, erst wird gearbeitet, dann nachgedacht. Und das häufig, um irgendwelche staatlichen Ziele zu erfüllen – die Kehrseite der strikten zentralen Steuerung der Wirtschaft. So werden überall und häufig Business Parks errichtet, die dann leer stehen, weil der Markt dafür nicht da ist. Inzwischen gibt es schon Unternehmen, die darauf spezialisiert sind, diese Geisterstadtteile günstig zu übernehmen und für neue Zwecke umzuwandeln. Oder es wird nach einem 20-minütigem Gespräch mit einem ausländischen Unternehmen schon ein „Memorandum of Understanding“ in einer gewichtigen Zeremonie unterzeichnet. Es scheint, auch dazu gibt es eine Zielvorgabe, die an die Partei berichtet werden muss.

#5 „Mit Chinas Wirtschaftswachstum geht das nicht mehr lang gut“

Beim Gedanken an chinesische Städte denken viele an Hochhäuser, überfüllte Straßen – und Smog. Menschen mit Atemmasken, krank durch die verpestete Atemluft, die Unternehmen zu verantworten haben, welche dem wirtschaftlichen Erfolg alles, auch die Gesundheit, unterordnen. Auch ich hatte ähnliche Erwartungen vor meinem Aufenthalt in China – und wurde überrascht. Da war nicht viel zu spüren von Luftverschmutzung – der Himmel war klar, die Luft angenehm. Wenn man sich damit beschäftigt, werden Grund und Ausmaß der Veränderung deutlich: China hat sich schon seit dem 17. Partei-Kongress im Jahr 2007 zum Aufbau einer „ökologischen Zivilisation“ als nationale Strategie verpflichtet. Und gegenüber der Führung der Kommunistischen Partei sagte Präsident Xi Jinping 2013: „Wir werden niemals wieder Wirtschaftswachstum auf Kosten der Umwelt anstreben.“ Und in China gilt ja: Gesagt, getan. Ein paar Beispiele:

  • China ist der Weltmarktführer beim Verkauf elektrischer Kraftfahrzeuge - und das auch im ÖPNV: So laufen alle 16.000 Busse in Shenzhen elektrisch. In ganz China gibt es angeblich rund 400.000 Elektrobusse, und alle zehn Wochen kommen weitere 19.000 hinzu (das ist doppelt so viel wie die Busflotte ganz Londons).
  • Knapp ein Drittel der weltweit installierten Solarpanele befinden sich in China (laut Bloomberg).
  • China forstet 2018 eine Fläche der Größe von Irland auf und setzt dabei 60.000 Soldaten ein.
  • Umweltschutz ist in den Leistungskriterien für Bürgermeister inzwischen auf Rang zwei verankert – direkt hinter dem BIP-Wachstum der Kommune.

Die Konsequenzen zeigen sich: So war laut Bloomberg im vergangenen Jahr die durchschnittliche tägliche Luftverschmutzung in Peking fast ein Drittel niedriger als 2015, und in einigen anderen Großstädten kam es zu einem Rückgang von etwa einem Zehntel.

Und das beste: Während Smog lange Zeit als unvermeidliches Nebenprodukt des steigenden Wohlstands entschuldigt wurde, gibt es bisher keine Anzeichen dafür, dass der Umweltschutz die Wirtschaft des Landes entgleisen lässt: Das Wachstum im letzten Jahr beschleunigte sich auf 6,9 Prozent - der erste Aufwärtstrend seit sieben Jahren. Darüber hinaus sieht China High-Tech-Industrien wie Elektroautos und Solarmodule als Chance, beim Umweltschutz eine weltweit führende Rolle zu übernehmen und Standards zu setzen – nicht zuletzt aufgrund des Vakuums, das die USA dort derzeit hinterlassen. Also merkt man auch hier wieder, wie schnell China dank seiner Staatsform eines dirigistischen Kapitalismus der Schalter umlegen kann.

Ich kann daher nur auf die alte Weisheit verweisen, dass Reisen bildet – und kann nur jedem einen China-Besuch ans Herz legen. Und zwar nicht nur zum historischen China der Mauer und der Terrakotta-Armee, sondern gerade zum modernen China in Schanghai, Shenzhen, Guangzhou etc. Sie werden Augen machen!

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