Wenige Tage nach der russischen Invasion in die Ukraine richtet sich die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit ganz auf das Kriegsgeschehen. Daher ist die Gefahr größer als sonst, dass der jüngste Weltklimabericht nicht wahrgenommen wird. Genau darüber haben sich die Hunderte von Autoren bei der Erstellung des 3500 Seiten starken Berichts Gedanken gemacht: Zu den schlimmsten Szenarien, die im Hinblick auf die künftige Erwärmung analysiert wurden, gehört eine Welt, in der „wiederauflebender Nationalismus, Ängste um die Wettbewerbsfähigkeit und Sicherheit sowie regionale Konflikte“ eine globale Zusammenarbeit nahezu unmöglich machen könnten.
Der heute veröffentlichte Bericht „Climate Change 2022: Impacts, Adaptation and Vulnerability“ (Klimawandel 2022: Auswirkungen, Anpassung und Anfälligkeit) konzentriert sich auf die Wechselwirkungen zwischen den Auswirkungen der Erwärmung wie Hitzewellen und Überschwemmungen auf Ökosysteme und die menschliche Gesellschaft. Die IPCC-Wissenschaftler stellen fest, dass einige Auswirkungen bereits „unumkehrbar“ seien und dass bis zu 3,6 Milliarden Menschen heute in einer Umgebung lebten, die „sehr anfällig für den Klimawandel“ sei.
Der Bericht bezeichnet die bisherigen Anpassungsmaßnahmen als zögerlich und unzureichend und macht die Folgen der Untätigkeit auf eindringliche Weise deutlich. Die Welt reduziert die Treibhausgasemissionen nicht schnell genug, was die Anpassung an den Klimawandel kritischer und auch schwieriger macht. Die Nationen lernen zu langsam, mit den zerstörerischen Auswirkungen zu leben, was zu menschlichem Leid führt – nicht nur in der Zukunft, sondern schon jetzt.
Hier sind fünf zentrale Aussagen aus dem jüngsten IPCC-Bericht über die Anpassung an den Klimawandel, oder wie die Menschheit lernt, mit der Erwärmung zu leben:
1. Warten ist keine Option
Die Auswirkungen des Klimawandels sind laut IPCC bereits „weitreichend“ und in einigen Fällen „unumkehrbar“. Die Sterblichkeit wegen Hitze ist gestiegen. Extreme Wetterereignisse und Temperaturen haben dazu geführt, dass Millionen Menschen von Ernährungsunsicherheit und Unterernährung betroffen sind. Landwirtschaft, Tourismus und andere klimaempfindliche Sektoren verzeichnen Verluste. Die Fischerei ist in einigen Regionen rückläufig. Die mit dem Klimawandel verbundene Migration nimmt zu.
In der vorherigen Version des Berichts aus dem Jahr 2014 wurde den prognostizierten Auswirkungen viel Platz eingeräumt; der neue Bericht widmet sich seitenweise den Ereignissen, die bereits eingetreten sind. „Die ganze Idee, dass es sich um ein räumlich oder zeitlich weit entferntes Thema handelt? Der neue IPCC-Bericht widerlegt das sofort“, sagte Katharine Hayhoe, leitende Wissenschaftlerin bei der Nature Conservancy. „Er sagt: Es ist genau hier, wo immer Sie leben. Es ist genau jetzt, nicht in Zukunft, und es wirkt sich auf jeden Aspekt unseres Lebens aus.“
2. Es geht jetzt darum, sich anzupassen oder zu sterben
Reiche Länder, die am meisten für die Kohlendioxidverschmutzung verantwortlich sind, verfügen über die meisten Ressourcen, um sich auf die Auswirkungen vorzubereiten, egal ob sie dies nun tun oder nicht. Ärmere Länder, die wenig oder gar keine Verantwortung für den Klimawandel tragen, müssen die Hauptlast der Folgen tragen – und sie erhalten von den Industrieländern keine der versprochenen Hilfen. Die Kluft besteht auch innerhalb der Länder; einkommensschwache und marginalisierte Gemeinschaften in wohlhabenden Nationen sind weitaus stärker gefährdet als ihre unmittelbaren Nachbarn.
„Es mag übertrieben klingen, aber meiner Meinung nach heißt es für viele gefährdete Länder jetzt: anpassen oder sterben“, sagte Patrick Verkooijen, Geschäftsführer des in den Niederlanden ansässigen Center on Global Adaptation. „Die Zeit für groß angelegte Investitionen in die Anpassung ist absolut reif. Die reichen Länder können die am stärksten gefährdeten Länder nicht länger im Stich lassen.“
3. Die Uhr tickt
Wissenschaftler haben ein Wort, das beschreibt, was passiert, wenn die Länder ihre Verschmutzungsgrenzen nicht einhalten und sich die Welt über 1,5°C hinaus erwärmt: „Overshoot“. Diese Vorstellung impliziert, dass die Menschen die Temperatur wieder unter den Grenzwert senken können, indem sie die Natur oder die Technologie nutzen, um die Treibhausgaswerte zu senken. Der neue IPCC-Bericht warnt, dass selbst wenn die Nationen dazu in der Lage wären – was sehr wahrscheinlich ist –, es immer noch „zusätzliche schwerwiegende Risiken“ geben wird, von denen einige im Vergleich zu Szenarien ohne Overshoot „irreversibel“ sind. Laut IPCC sind bis zu 14 Prozent der an Land lebenden Tierarten vom Aussterben bedroht, sobald die Schwelle von 1,5 Grad überschritten wird.
Diese Tatsache stellt die physikalischen Grenzen der Klimaanpassung dar und prägt die Empfehlung des IPCC, die Emissionen so schnell wie möglich zu reduzieren. Reduzierungen heute sind viel wertvoller als die gleichen Reduzierungen in fünf oder zehn Jahren.
4. Was über die Emissionssenkung hinaus erforderlich ist
Was die Emissionssenkung betrifft, ist die Aufgabe klar. Die Welt muss die Kohlendioxidemissionen bis Mitte des Jahrhunderts auf null reduzieren und bis 2030 die Werte von 2010 halbieren, so der IPCC-Bericht von 2018.
Da eine gewisse weitere Erwärmung jedoch unvermeidlich ist, kommt es hier auf die Bereitschaft der Länder an – und zwar in hohem Maße. Wirksame Anpassungsmaßnahmen sind von entscheidender Bedeutung. Das Problem ist, dass die bisherigen Anstrengungne dem IPCC zufolge eher fragmentiert und kurzfristig sind. Außerdem sind die Anpassungsbemühungen oft unterfinanziert. Und mit zunehmender Erwärmung wird ihre Wirksamkeit abnehmen.
Wie könnte die Welt nach einer Erwärmung von zwei Grad über dem vorindustriellen Niveau aussehen? „Diese Frage kann nicht beantwortet werden, wenn man nicht auch etwas darüber sagt, was wir über den Zustand der Gesellschaft annehmen“, so Brian O'Neill, Direktor des Joint Global Change Research Institute in Maryland und einer der Hauptautoren des Kapitels über zukünftige Risiken.
5. Es wird nicht genug getan
In den Jahren vor der Pandemie hatte sich der Anstieg der weltweiten Emissionen auf einem Plateau eingependelt, und preiswerte erneuerbare Energien ermöglichen eine drastische Verringerung der Emissionen. Aber die CO₂-Emissionen in der Atmosphäre sind noch nicht gesunken, und wie der Bericht deutlich macht, haben die Nationen nicht annähernd die weitreichenden Veränderungen vorgenommen, die sie zu ihrem eigenen Schutz hätten vornehmen müssen.
„Jeder Bruchteil eines Grades zählt, wenn es um die Auswirkungen des Klimawandels geht“, sagte Stephanie Roe, Wissenschaftlerin für Klima und Energie bei der Umweltorganisation WWF. „Wir können die Auswirkungen also immer noch begrenzen, wenn wir Anpassungsmaßnahmen effektiv umsetzen.“
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